Oberammergau
Der Fluch der Zeit

Oberammergau überbrückt die passionsfreie Zeit mit "Der fliegende Holländer" Christian Stückl inszeniert das Märchen vom Geisterkapitän

02.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:51 Uhr

Oberammergau (DK) Das Idyll ist perfekt. Abendsonne bringt die Berge zum Leuchten, im Gasthaus gibt es "Schäufala", gleichmütige Kühe wenden dem Festspielhaus kauend ihre breiten Hinterseiten zu. Drinnen übt der Chor nochmals die große Szene aus dem dritten Bild, in der Geister der Vergangenheit sich mit Matrosen und Mädchen einen stürmischen Kampf der Melodik auf Leben und Tod liefern.

Oberammergau bringt lässig auf einen Punkt, was andere Festspielorte gern als Alleinstellung hervorheben: großartige Natur wie Bregenz, das Selbstbewusstsein eines regional glänzenden gesellschaftlichen Events wie Salzburg, gesunde Landluft wie Erl oder Andechs und nun auch noch die Musik von Richard Wagner, also Bayreuth. Im Programmheft ist sogar nachzulesen, dass er mal hier vorbeigeschaut hätte, um sich für seine Festspielhausidee inspirieren zu lassen. Wenn Regisseur und Festspielleiter Christian Stückl vor der Premiere entspannt zu Protokoll gibt, er habe bisher mit Wagner wenig am Hut gehabt, dann ist das eine Ansage. Wagnermusik ist die Königstigershow unter den Opernenthusiasten: Hier ist jeder ein Profi und könnte womöglich auch alles selbst besser als jene, die sich auf der Bühne plagen - wär das Zeug nur nicht so schwer zu singen.

Wenn sich dann aber Orchester, verstärkte Solostimmen und Vogelzwitschern zum typischen Open-Air-Sound mischen, ist alles, wie es muss: Stückl füllt die Ouvertüre mit dem stummen Spiel des Damenchors und eines als "Engel" bestens integrierten jugendlichen Asylanten und beweist, dass er das Stück inzwischen gründlich kennt. Dann strömt der Matrosenchor auf die Breitbildformat-Bühne, Daland (stimmlich voll überzeugend und von hoher Textverständlichkeit, wenn auch inszenatorisch altbacken: Guido Jentjens) ärgert sich, der Steuermann (stimmschön: Denzil Delaere) bekommt seine harte, doch väterliche Hand zu spüren. Alles hier ist bieder und brav, wie es Opernfans der ganz alten Schule mögen. Musikalisch wird aber deutlich vernehmbar nicht nur mit den Tücken von Wind und Meer, sondern auch mit anderen Schwierigkeiten gekämpft. Die Verstärkung bringt starke Verzögerungen mit sich, überraschende Stereo-Effekte lassen immer wieder den Klang zerfasern. Der Dirigent Ainars Rubikis hat in Chor und Orchester genau dort empfindliche Truppenverluste, wo es musikalisch am schwierigsten ist: bei den Tenören und im hohen Blech. "Es ist noch viel Balgerei in der Musik", beobachtete ein Zuhörer der Uraufführung 1844 - auch heute noch wahr.

Der Sänger der Titelpartie, Gábor Bretz, der nach einem Fachwechsel bei der Premiere hörbar mit Intonationsschwierigkeiten kämpft, ist als viriler Geisterfürst szenisch voll überzeugend. Stückl lässt ihn viel häufiger auftreten als von Wagner vorgesehen und führt mit dem Zeigefinger durch die Handlung: Vorsicht vor der großen, wilden Liebe! Erst nach der Pause, als Zugeständnis an Sitzfleisch und Gastronomie völlig ungewöhnlich nach dem ersten Bild eingefügt, kommt mit Senta Schwung in die Handlung. Sie wird von der jungen Lettin Liene Kinca nach einem Schreckensaussetzer zu Beginn musikalisch ganz herrlich gestaltet, dunkel timbriert und strahlend in der Höhe. Sie bewegt sich in einem sozialen Umfeld von beklommenster geistiger Enge, unter bebrillten Spießerinnen, unverstanden von einer strengen Merkel-Mary (schön gesungen und gespielt von Iris van Wijnen) und verschachert von einem geldgierigen Vater. Die Bühne zeigt in der Optik einer gedrehten Waschmaschinentrommel dazu die Fluten des Meers und zwei Schiffsmodelle (Stefan Hageneier). Am Ende entwischt Senta in den sich schließenden Schlitz der Trommel, Erlösung suchend auf das davonfahrende Segelschiff. Richard Wagner nannte sein Stück eine romantische Oper - hier sah man eine Volksoper. Und das ist gut so. Neben den überkandidelten High-End-Festivals unserer Zeit ist Oberammergau ein Solitär von erdender Qualität.

Termine: 14., 16., 21. und 23. Juli. Kartentelefon (0 88 22) 945 88 88.