Nürnberg
Siegfried im Spießerparadies

Respektlos und humorvoll geht Regisseur Georg Schmiedleitner den dritten Teil von Wagners "Ring" in Nürnberg an

20.04.2015 | Stand 02.12.2020, 21:24 Uhr

Held und Pantoffelheld: Mime (Peter Galliard) hat es nicht leicht mit seinem Ziehsohn Siegfried (Vincent Wolfsteiner, hinten) - Foto: Olah

Nürnberg (DK) Was könnte mehr von den Vorzügen der Ehe überzeugen – als ein Flachbildfernseher? Gut gelaunt rollt Siegfried das sperrige Möbelstück herein, ebenso ein Sofa, Chipstüten und Bier – alles, um die zweifelnde Brünnhilde umzustimmen. Die Kehrseite des biederen Glücks steht ihr allerdings vor Augen: Am Bühnenrand wedelt der Waldvogel mit dem Hochzeitsanzug des Bräutigams, aber vor seinem Gesicht hängt eine Totenmaske.

In der spießigen Menschenwelt ist es schließlich mit der Unsterblichkeit für Brünnhilde vorbei.

Radikal wie kaum ein Regisseur vor ihm ist Georg Schmiedleitner am Staatstheater Nürnberg mit dem dritten Teil von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ umgegangen. Und schmiedet dabei das „Siegfried“-Drama so erfolgreich um, dass man fast eine völlig neue Oper vor sich zu haben glaubt. Sinnfällig wird das besonders im langen und oft furchtbar langatmigen dritten Akt, in den meisten Inszenierungen eine dramaturgische Hängepartie mit genialer Musik.

Denn Schmiedleitner sieht den Witz in Partitur und Libretto: Was sonst allenfalls unfreiwillig komisch ist, etwa wenn Siegfried die allmählich erwachende Brünnhilde erblickt und damit zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau, ist hier ein Quell des Humors. In Nürnberg rappelt sich Brünnhilde schlaftrunken auf und sinkt dann verwirrt grimassierend immer wieder schlafend in sich zusammen, genau im Zusammenhang mit der symphonisch sich aufbäumenden Musik, sodass man aus dem Schmunzeln kaum herauskommt.

Das ist vor allem deshalb so hinreißend, weil Schmiedleitner ein neuer Blick auf den alten Stoff gelingt. Gerade der letzte Akt des Musikdramas ist oft so langatmig, weil den Regisseuren der Witz ausgeht, und der vorher noch so kraftstrotzend-naive Siegfried völlig unvermittelt zum staatstragenden Helden reift. Bei Schmiedleitner bleibt Siegfried ein gutmütiger Tölpel, wie in den ersten beiden Akten. Gerade auch hier geht Schmiedleitner ausgesprochen respektlos mit dem Stoff um.

Siegfried und sein Ziehvater Mime hausen in einer heruntergekommenen Wohnruine. Siegfried, der seine Bärenkräfte offenbar hauptsächlich regelmäßigem Nutella-Konsum verdankt, kommt im schmuddeligen Trainingsanzug daher. Mime steht als Hausmann in der Küche, reibt im Rhythmus der Musik eine Stange Rettich und knetet Semmelknödel. Das pubertierende Riesenbaby Siegfried erträgt er nur mithilfe diverser Schnäpse, sodass er meist angesäuselt über die Bühne torkelt. Im Kühlschrank bewahrt er unterdessen den Kopf von Siegfrieds Mutter Sieglinde auf. Der Wurm Fafner haust unter der verkrümmten Fahrbahn einer Autobahn und taumelt in Menschengestalt wie ein Zombie über die Bühne. Wotan trägt anstelle eines Schlapphuts eine Baseballmütze und zieht einen Einkaufstrolley hinter sich her. Die Weltenmutter Erda empfängt er konspirativ im Herrenklo, einem Treff von Drogensüchtigen, Tätowierten und  kopulierenden Schwulen. Der Machtkampf zwischen dem Zwerg Alberich und Wotan hat längst unterstes Niveau erreicht: Alberich wütet gegen den Göttervater, indem er ihn mit Urin bespritzt.  

Das alles ist frech, unterhaltsam und wohl auch provokativ für das Nürnberger Publikum, das nach der Premiere zwischen Buhrufen und Bravos hin- und hergerissen war. Bei diesem „Siegfried“ kommt keine Minute Langeweile auf – auch weil die Regie-Ideen niemals bloße Kalauer sind, sondern die Personen charakterisieren.

Die „Siegfried“-Produktion wäre allerdings niemals so hinreißend, wenn Schmiedleitner nicht auch über fantastische Sängerdarsteller verfügte. Man muss lange überlegen, um sich an einen so stimmstarken, den ewig grinsenden Tor Siegfried so grandios verkörpernden Darsteller zu erinnern wie den jungen Vincent Wolfsteiner. Hinreißend allein die gewaltige Strahlkraft seines Heldentenors, wenn er auf der Waschmaschine stehend das Schwert Nothung schmiedet. Kaum weniger überzeugend Rachel Tovey als Brünnhilde, die weniger durch pure orkanartige Lautstärke punktet als mit vielen hauchfeinen Tönen. Wunderbar auch der weich aufblühende, warme Bariton von Antonio Yang (Wotan) und die dunkle, weich vibrierende Stimme von Leila Pfister (Erda). Einzig Peter Galliard als Mime kam stimmlich gelegentlich an seine Grenzen.

Allesamt sind das Musiktheater-Darsteller, denen hohles Pathos ebenso fremd ist wie vokale Kraftmeierei. Dazu passt der Tonfall der Staatsphilharmonie, die unter der Leitung von Marcus Bosch auf kluge Differenzierungen setzt und die Partitur mit geradezu kammermusikalischer, humoristischer Wendigkeit ausleuchtet. Grandios!