München
Zwischen Traum und Wirklichkeit

David Bösch inszeniert Heinrich von Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" im Münchner Residenztheater

06.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:43 Uhr

Held oder Antiheld? Shenja Lacher als Prinz Friedrich Arthur von Homburg - Foto: Pohlmann

München (DK) Gemessenen Schrittes steigt er im langsam sich lichtenden Nebel die breiten Marmorstufen eines Mausoleums hinab. Auf dem untersten Treppenabsatz hält er inne, um traumverloren einen Lorbeerkranz sich aufs Haupt zu setzen: Prinz Friedrich von Homburg, der Sieger der Schlacht von Fehrbellin.

Doch die militärische Leistung des brandenburgischen Offiziers, die Schweden in die Flucht geschlagen zu haben, wird von der Obrigkeit nicht honoriert. Denn Prinz Friedrich hat als junger Feldherr die oberste Tugend des preußischen Militärs missachtet: Er hat nicht den Befehl des Heerführers für den Angriff auf den Feind abgewartet, sondern seine Kavallerie eigenmächtig in die Schlacht geführt – und gesiegt.

Was freilich interessiert uns heutzutage diese auf historischen Begebenheiten fußende Anekdote aus der preußischen Geschichte mitsamt der 1675 stattgefundenen Schlacht von Fehrbellin? Eigentlich nichts. Wären da nicht Heinrich von Kleists edles Sprachkunstwerk und die gepflegte, dramatisch ansteigende Diskussionskultur der Kontrahenten in diesem Stück, vor allem jedoch das zeitlose und überzeitliche Thema der Zivilcourage: Darf ein Einzelner über staatliche Gesetze sich hinwegsetzen, wenn er es moralisch für richtig empfindet?

Frei von allem historischen Schwulst hat der 37-jährige Regisseur David Bösch sich dieser Frage gestellt und im Münchner Residenztheater aus Kleists Drama vom Jahre 1811 eine Inszenierung gezaubert, die zum Saisonauftakt des Bayerischen Staatsschauspiels zweifellos Maßstäbe setzt. Auf neun der Hauptfiguren hat Bösch das Personal reduziert und das Stück von drei Stunden Dauer auf die Hälfte gekürzt. Keine Regie-Mätzchen, keine krampfhaften Aktualisierungen, keine Video-Einblendungen oder störende und verstörende Action-Szenen lässt der versierte Regisseur hier auf das Publikum niederprasseln. Sondern ruhig und ohne Aufgeregtheiten kommen Kleists Sprache und dessen Anliegen des Aufbegehrens gegen den Untertanengeist und das Pochen auf das Recht der eigenen Entscheidung hier voll zur Geltung.

Großes, beeindruckendes Staatsschauspiel ist hier zu sehen, ohne in falsches Pathos zu verfallen. Und mit einer fantastischen Schauspielercrew gelang Bösch eine ebenso großartige wie auch gnadenlose Sezierung der Psyche aller Figuren: Oliver Nägele gibt nicht aufgrund seiner Leibesfülle, sondern wegen der unumschränkten Machtfülle des absolutistisch regierenden Kurfürsten Friedrich Wilhelm das Todesurteil über den unbotmäßigen Prinzen von Homburg bekannt, um ihn nach langem Zweifeln doch zu begnadigen. Beeindruckend auch Ulrike Willenbacher als ihre Gefühle unterdrückende „Eiserne Lady“ preußischer Disziplin, die als Kurfürsten ihren Gatten letztlich positiv beeinflusst, während Friederike Ott die in Homburg ebenso leidenschaftlich wie leidend verliebte Prinzessin Natalie empfindsam darstellt.

Dazu Gerhard Peilstein, Johannes Zirner, Franz Pätzold, Arnulf Schumacher und Simon Werdelis als adelige Scharfmacher und militärische Betonköpfe, die geifernd auf preußische Tugenden samt Untertanengeist beharren oder als liberal denkende, den Ideen der Aufklärung verpflichtete Nachwuchsoffiziere agieren. Fulminant vor allen Shenja Lacher als idealistisch gesinnter, aber innerlich völlig zerrissener Prinz Friedrich, der seiner Courage sich bewusst ist und doch das Todesurteil anerkennt. Illusion und Realismus, das Ineinandergreifen von Wirklichkeit, Anarchie und Utopie zieht sich wie ein roter Faden durch diese Darstellung des Helden, der eigentlich ein Antiheld sein will. „Ist es ein Traum“, lässt Kleist ihn am Ende zweifelnd fragen. Ja, ein Traum ist’s – und auf den in symbolisch blaues Licht getauchten Marmorstufen (Bühne von Falko Herold) ein schöner, ein hinreißender Traum.

Voller Konzentration folgte das Premierenpublikum dieser Aufführung, um nach eineinhalb Stunden und einigen Sekunden der Betroffenheit in stürmischen Applaus für alle Beteiligten auszubrechen.

Die nächsten Vorstellungen im Münchner Residenztheater sind am 9., 19. und 24. Oktober. Kartentelefon: (0 89) 21 85 19 40.