München
Minidramen auf dem Küchentisch

Keine Zeit für einen 800-Seiten-Klassiker? Kein Problem! Michael Sommers Zusammenfassungen dauern etwa zehn Minuten. Mit einem Playmobil-Ensemble bietet er "Weltliteratur to go" auf einem eigenen Youtube-Kanal höchst unterhaltsam.

16.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:54 Uhr

Tatort Küchentisch: Einmal die Woche setzt Michael Sommer hier sein Playmobil-Ensemble in Szene. - Foto: Pütz

München (DK) Früher hat Michael Sommer lieber mit Lego gespielt. Doch heute gehört seine Leidenschaft den Playmobil-Figuren. Etwa 400 hat er zu Haus - bei Ebay und auf Flohmärkten erstanden oder im Playmobil-Shop in der Nachbarschaft. Geordnet nach Funktionen und Epochen wohnen sie in eigenen Setzkästen - und warten auf ihren Einsatz als Schauspieler in Michael Sommers Minidramen.

"Weltliteratur to go" bietet der 40-Jährige auf seinem eigenen Youtube-Kanal an. Denn: "Theater ist schön, Literatur ist schön, aber für den Hausgebrauch viel zu lang." Wer hat schon Zeit für einen 800-Seiten-Schmöker wie "Schuld und Sühne" von Dostojewski? Michael Sommers Playmobil-Fassung dauert gerade mal zwölf Minuten. James Joyces "Ulysses" schafft er in 18 Minuten - entsprechend den 18 Kapiteln des Romans. Günter Grass' "Blechtrommel" gibt es in 15 Minuten und Edgar Allen Poes "Verräterisches Herz" - ganz in Sepia getaucht - dauert gerade mal zweieinhalb Minuten. 149 Filme (121 davon auf Deutsch) hat er bisher gedreht - von George Orwells Dystopie "1984" bis zu Georg Büchners Dramenfragment "Woyzeck". Und wöchentlich kommt ein neues Werk hinzu.

Der erste Film - eine Zusammenfassung von "Dantons Tod"- entstand 2013, als Michael Sommer noch als Dramaturg am Theater Ulm arbeitete. "Angesichts einer Inszenierung, bei der der Regisseur komplett auf die Handlung verzichtete, habe ich bei einer Einführungsveranstaltung eben diese Handlung mit Playmobil-Figuren nachgespielt", erzählt Sommer. "Da gab es Erklärungsbedarf." Weil der Dramaturg dem vermeintlich "angestaubten" Image von Literatur entgegenwirken wollte, hatte er sich immer wieder mal neue Formate für deren Vermittlung ausgedacht. Als es beispielsweise um Oscar Wildes Komödie "Bunbury" ging, bereitete er mit den Zuschauern Gurkensandwiches vor, die im Stück eine Rolle spielen.

Natürlich gibt es für seine Playmobil-Erklärstücke ein Vorbild: Harald Schmidt hatte schon in den 90er-Jahren in seiner Show in großen Dioramen etwa die Französische Revolution, die britische Monarchie oder die Mondlandung mit den Plastikmännchen nachgestellt.

Als Sommer dann bei der Einführung zu "Dantons Tod" den Konflikt zwischen den verschiedenen politischen Fraktionen um Robbespierre und Danton mit Playmobil-Figuren und Schlümpfen verhandeln ließ, lief auch eine Kamera, die das Spiel auf eine große Leinwand projizierte. Hinterher stellte Sommer das Filmchen auf Youtube - und hatte binnen weniger Wochen überraschend viele Klicks. Ein zweiter Film entstand dann 2014: "Hamlet". Auch der kam gut an. Michael Sommer entschied sich für eine regelmäßige Fortsetzung und schaffte es darüber hinaus, den Reclam-Verlag als Kooperationspartner für sein Projekt zu gewinnen. Der Verlag, dessen Markenzeichen die kleinen gelben Heftchen sind, präsentierte Sommer auch eine Wunschliste, welche Stoffe er gern "verplaymobilisiert" hätte. Daneben fordert der Autor, Regisseur und seit Kurzem auch Deutschlehrer, der heute in München lebt, sein Publikum auf, Wünsche zu äußern. "Gerade Schüler haben sehr konkrete Vorstellungen davon, was sie gerne zusammengefasst hätten", sagt Sommer. "Das klingt dann meist so: ,Ich muss morgen ein Referat über den ,Steppenwolf €˜ halten. Kannst du das machen €˜ Aber so schnell geht's dann doch nicht. Ich muss ja auch erst mal lesen. Und meine Planung geht ziemlich weit voraus." Hat Sommer die Lektüre erst mal hinter sich, dauert es etwa einen Arbeitstag, einen Clip seiner "Weltliteratur to go" zu produzieren: Script schreiben, Besetzung festlegen, Schauspieler casten, Kulissen suchen, Küchentisch freiräumen, spielen, drehen. Bei den Filmen unterm Reclam-Logo gibt es sogar noch ein kleines Video-Lektorat.

Aufwendig kann auch die Suche nach den Bildhintergründen werden. Denn Sommer arbeitet mit einer kleinen Drehbühne aus Pappkarton, auf dessen vier Seiten jeweils ein Foto in DIN A4-Größe aufgeklebt ist. Je nachdem, wo die Szene spielt - in der Serenissima wie bei Shakespeares "Kaufmann von Venedig" oder in Lübeck wie bei Thomas Mann -, sucht er sich rechtefreie Bilder aus dem Internet. Die größte Herausforderung? "Moderne Romane, in denen es viel Episodenhaftes gibt", lautet die Antwort. Gibt es denn etwas, das sich nicht fürs Playmobil-Format eignet? Sommer: "Lyrik!"

Ansonsten sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Die Filme sind informativ, mit Hintergrundwissen über Werk und Autor angereichert und sehr witzig. Die Sprache ist nicht hehr, sondern heutig und die Umsetzung höchst kreativ. Und natürlich gibt es jede Menge skurrile Details zu entdecken. So besteht Schillers Räuberbande etwa aus Schlümpfen (Beauty als Spiegelberg). In der "Odyssee" gibt ein Küchenmixer das Meeresungeheuer Charybdis. Und in Franz Kafkas "Verwandlung" wird Gregor Samsa zu einem VW Käfer. Sommer mag diese Ästhetik: "Es passiert auf dem Küchentisch und es ist eine Form von Kasperltheater. Da kann es gern ein bisschen trashig und hausgemacht aussehen."

Klar gibt es auch jede Menge Kommentare zu seinen Videos. Von: "Ich glaube ja, dass dieser Kanal nur eine Ausrede ist, um mit Playmobil spielen zu können" bis "Retter in der Prüfungsnot". Denn mittlerweile ist Michael Sommers Werk beachtlich, umfasst Werke wie F. Scott Fitzgeralds Roman "Der große Gatsby" genauso wie Antoine de Saint-Exupérys Meisterwerk "Der kleine Prinz" und Dramen wie Dürrenmatts "Physiker" genauso wie Wolfgang Herrndorfs Bestseller "Tschick". Die Filme bieten kurzweiliges Vergnügen - sind aber trotzdem mit einem Warn-hinweis versehen: "Dieses Video ersetzt nicht die Lektüre!"

Michael Sommers "Weltliteratur to go" findet man im Internet unter: www.youtube.com/user/mwstubes" class="more"%>