München
Liebe kontra erstarrte Gesellschaftsnormen

Christian Spuks Handlungsballett "Anna Karenina" im Münchener Nationaltheater kann nicht ganz überzeugen

20.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:11 Uhr

München (DK) Einiges mehr als nur Tanz bietet Christian Spuks Umarbeitung von Leo Tolstois gewichtigem Roman zu einem Handlungsballett. Die aus ihrer formelhaft erstarrten Ehe ausbrechende Anna, die ihre Leidenschaft zum Womanizer Wronski auslebt, dann aber erkennt, dass dies allein nicht trägt, dass sie isoliert ist, wirft sich ja am Ende vor einen Zug.

So dröhnt im noch hell erleuchteten Nationaltheater zunächst der Fahrlärm eines D-Zuges.

Als sich der schwarze Zwischenvorhang hebt und es auf dem Bahnsteig zur ersten Begegnung zwischen Anna und Wronski kommt, zeigt ein Film auf einer im Hintergrund hereingezogenen Leinwand Gleise, Dampflokomotive und fahrende Züge. Als Anna später versucht, noch einmal Kontakt zu ihrem zurückgelassenen Sohn aufzunehmen, spielt dieser mit einer elektrischen Eisenbahn. Zum tödlichen Ende Annas kommt erneut eine Filmsequenz mit fahrendem Zug. Die Leinwand zeigt dann auch eine Feldlandschaft, wo der junge Lewin zunächst in der Arbeit Trost für seine unglückliche Liebe zu Kitty findet, ehe beide dann doch als Kontrastpaar fern der St. Petersburger und Moskauer Gesellschaft glücklich werden.

Die glücklichste Phase zwischen Anna und Wronski ist mit einem Foto der oberitalienischen Campagna bebildert. Ein kleiner Kristalllüster im Hintergrund leuchtet in den Ball- und Gesellschaftsszenen. Kontrastierend dazu stehen sechs Birken in der Bühnenweite und sollen wohl "Russland" signalisieren. Zur Orchester- und Klaviermusik betritt dann auch Mezzosopranistin Alyona Abramova die Szene und singt über den Abend verteilt drei schwermütige Lieder Sergej Rachmaninows.

Doch diese Zusätze zur mal pantomimisch sprechenden, mal klassisch auf der Spitze getanzten Handlung verdichteten die Expression nicht, vor allem, wenn der Tanzfreund bedenkt, dass es sich um die fünfte Einstudierung der Züricher Produktion von 2014 handelt. So wären Übertitel der russischen Liedtexte kein Schaden gewesen. Der nicht nur in den Gesellschaftsszenen leuchtende Lüster mag noch ein Premieren-Fehlerchen sein. Doch dass Emma Ryotts schöne Damenkostüme die wichtigen Frauenfiguren Anna, Dolly, Betsy, und Lidija viel zu wenig unterscheidbar machten, wog deutlich schwerer - mit wem Wronski flirtet und Anna schließlich betrügt, war kaum nachzuvollziehen.

In der literarischen Vorlage bezeichnet Anna ihren in Konventionen erstarrten Ehemann als "ministerielle Maschine" - das hätte man gerne in Tanz umgesetzt gesehen. Auch der erste "Schicksalsblick" zwischen Anna und Wronski war weder von der Lichtregie noch von der Choreografie als "lebensentscheidend" gezeichnet. Dafür ist Spuk für den italienischen Liebesrausch der beiden ein schöner Pas de deux geglückt. Hier steht für den Gefühlsrausch immer wieder eine schwungvolle Drehhebung, bei der Anna dann mit gespreizten Beinen ihren weiten Rock samt Unterröcken wie eine kleine Explosion aus Farbe, Stoff und Licht im Raum aufleuchten lässt. Leider nur setzt Spuk diesen getanzten Effekt auch in den wenigen Szenen des Ehepaares Karenin und auch bei Wronskis Flirtpartnerinnen und in den Ensembleszenen ein. Annas von Opium-Missbrauch vorangetriebener seelischer Absturz wurde choreografisch nicht so eindringlich gesteigert, dass ihr Freitod einen erschütternden Höhepunkt bildete.

So wurde die Premiere freundlich beklatscht, denn Robertas Å ervenikas dirigierte eine kontrastreiche Mischung aus schwelgerischem Rachmaninow und hartkantigem Lutoslawski, ergänzt durch Klaviersoli von Adrian Oetiker. Dem amerikanischen Gastsolisten Matthew Golding fehlte noch die virile Ausstrahlung, um den Frauenhelden Wronski glaubhaft zu machen. Ksenia Ryzhkova tanzte die Anna formschön, doch zu Herzen ging ihr Rollenporträt nicht. So hatten es Jonah Cook als Lewin und Lauretta Summerscales als Kitty leicht, überzeugender als die zwei Hauptfiguren zu wirken.