München
Demütigungen am Set

Spannend: Georg Büchners "Woyzeck" im Münchner Volkstheater

24.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:04 Uhr

München (DK) Welch ein fantastisches Dramenfragment hat der mit 23 Jahren an Typhus im Züricher Exil gestorbene Georg Büchner mit seinem „Woyzeck“ doch hinterlassen. Die Theater des 19. Jahrhunderts konnten mit diesem 1837 entstandenen Torso in seiner Skizzenhaftigkeit und minimalistischen Sprache wenig anfangen. Erst die Uraufführung im Jahre 1913 im Münchner Residenztheater eröffnete den Siegeszug dieser berührenden, sozialkritischen Anklage. Alle großen Schauspieler haben seitdem die Figur des Soldaten Franz Woyzeck, diesen Urahn der geschundenen Kreatur, gespielt, der psychisch und physisch von seiner Umwelt ausgebeutet wird und seine Geliebte Marie ersticht, da diese ihn mit einem Tambourmajor betrogen hat.

Jetzt hat sich der 25-jährige Regisseur Abdullah Kenan Karaca dieses Stoffes angenommen, einige Rollen gekürzt oder ganz gestrichen, Passagen aus Büchners revolutionärer Schrift „Der Hessische Landbote“ vom Jahre 1834 und der Novelle „Lenz“ eingefügt. Dazu haben Karaca und der Dramaturg David Heiligers auch noch Briefstellen des Vormärz-Autors an seine Braut ebenso einfließen lassen wie einige Zitate aus den Originalakten des Clarus-Gutachtens über einen Mörder aus Eifersucht, das Büchner zu diesem Stück animierte. Eine interessante, neue Fassung ist so entstanden – eine ebenso stringente wie vitale Auseinandersetzung mit Büchners Werk.

Vor einer unüberwindbaren Gebirgskulisse mit Wasserfall (Bühnenbild: Davy van Gerven) sitzen alle Protagonisten dieses Stückes an dem langen Tisch einer Produktionsfirma. Chips und Weintrauben werden verköstigt, Obstschnitten stehen bereit und am Rotwein wird gesüffelt. Gemeinsam proben sie das Stück. Wer gerade am Set seinen Auftritt hat, füllt seine Rolle aus, während die Pausierenden sich zurücklehnen, rauchen, trinken, sinnieren und ihre Schauspielkollegen kritisch beobachten.

Woyzecks Geliebte Marie (Magdalena Wiedenhofer) ist eine sehr blasse Braut in einem langen, grauen Biedermeierkleid, dazu ohne jegliche erotische Ausstrahlung. Das erklärt, warum der ebenfalls nicht gerade fesche Tambourmajor (Jakob Geßner), der hier kein „Mann wie ein Löw“ ist, Marie nicht mit ebenso falschen wie eindeutigen Liebesbeteuerungen umgarnt, sondern sie brutal vergewaltigt. Der Hauptmann (Silas Breiding), für den Woyzeck den Prügelknaben abgeben muss, ist ebenso ein arroganter Schnösel wie der Doktor (Pascal Fligg), der seine pseudo-wissenschaftlichen Experimente an ihm durchführt. Maries Nachbarin Margret (Lenja Schulze) zickt hier ganz gewaltig, der Narr (Okan Cömert) hält allen den Spiegel vor, während Woyzecks Freund Andres (Mehmet Sözer) im Hintergrund ausdauernd Weidenäste zuspitzt.

Und Woyzeck selbst? Kein „Hirnwütiger“ ist er in der Darstellung des in Berlin geborenen Sohel Altan G., sondern der einzige positive Typ in dieser Ansammlung von Psychopathen und traurigen Gestalten. Ein hochsensibler Grübler und letztlich Verzweifelnder ist er, der in dieser Welt voller Lug und Trug, voller Arglist und Demütigungen ein Suchender ist und sich doch nicht zurechtfindet.

Das größtenteils jugendliche Premierenpublikum im Münchner Volkstheater jubelte über diese Neuinszenierung, die von Schulklassen bestimmt bald gestürmt wird. Zu wünschen ist es ihnen und dieser ambitionierten, diskussionswürdigen Produktion auf jeden Fall.

Termine: 30. und 31. Oktober sowie am 7., 8. und 23. November; Kartentelefon (0 89) 5 23 46 55.