München
Auf dem Laufband in den Untergang

"Die Räuber" am Münchner Residenztheater: Ulrich Rasche macht aus Schillers Sturm-und-Drang-Drama ein Ereignis

27.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr

Das Todeskollektiv: Ulrich Rasche spannt Schillers Figuren in das Räderwerk eines gewaltigen Mensch-Maschinen-Musiktheaters ein. - Foto: Pohlmann

München (DK) Mit einem schaurig hellen Lachen schreitet Franz Moor auf einem abenteuerlich schrägen Laufband gemessenen Schrittes hinab in Richtung Publikum. Ohne seinen alten Vater ins Gesicht zu blicken, schleudert er ihm mit perfider Arroganz die Nachricht entgegen, dass sein vom Vater bevorzugter Bruder Karl, der verheißungsvolle Erstgeborene, in Leipzig ein ausschweifendes Studentenleben führe.

Begleitet von hämmernden Trommelschlägen beginnt die Intrige, in deren Verlauf nur Verzweifelte und Tote den Weg von Friedrich Schillers eindringlich geschildertem Untergang der Familie Moor und der missglückten Weltenrettung säumen.

Furios lässt Regisseur Ulrich Rasche seine Neuinszenierung dieses wuchtigen Sturm-und-Drang-Dramas vom Jahre 1781 im Residenztheater beginnen, die über dreieinhalb Stunden hinweg ganz gewaltig in den Bann zieht. Eine die gesamte Bühne bis zur Brandmauer ausfüllende, monströse Konstruktion hat er für diese Mammutaufführung entworfen, bei der auf zwei monumentalen Stahlträgern vier Laufbänder synchron oder einzeln sich heben und senken, drehen und schwenken lassen. Meist sind sie steil eingestellt, auf denen die Schauspieler, an Ketten gefesselt, stets mit Blick ins Publikum, vorwärtsstreben und doch nicht von der Stelle kommen. Symbolischer geht's kaum.

Von den Taten und Untaten der so ungleichen Brüder Franz und Karl Moor, von der Verzweiflung des Vaters über seine Söhne, von der Liebe Karls zu Amalia und all dem schändlichen Tun berichten die in martialischer Gruppendynamik auftretenden und (von Heidi Hackl) ganz in Schwarz gewandeten Figuren in rhythmisierten, ungemein Furcht erregenden Sprechchören. Schillers herbe Kritik am Absolutismus, am "tintenklecksenden Säkulum" und dem "schlappen Kastratenjahrhundert" nicht zu vergessen, die ihm den Kerker eingebracht hätte, wenn er nicht rechtzeitig und unter dramatischen Umständen aus Württemberg ins pfälzische Mannheim geflohen wäre, wo seine "Räuber" 1782 uraufgeführt wurden. Über die Headsets der Schauspieler schallt dieses revolutionäre Jugendwerk des 21-Jährigen nun in den Zuschauerraum des Residenztheaters, was die Dramatik des Geschehens gespenstisch überhöht.

Im Gleichschritt schreiten und stampfen die Moor-Familienmitglieder und all die Revoluzzer pausenlos über die Förderbänder. Der Einzelne gilt hier nichts mehr, er geht in der Masse unter. Das Individuum ist ausgelöscht, ist Teil des Todeskollektivs geworden. Und wenn Karl Moor nach der Enterbung durch seinen Vater als Räuberhauptmann mit seinen zu jeder Schandtat bereiten Kumpanen marodierend und brandschatzend durch die böhmischen Wälder zieht, da lässt der Regisseur Text chorisch und in einem schaurigen Stakkato bis zum akustischen Overkill über die Lautsprecher dröhnen, während am Bühnenrand die mit Violine, Viola, E-Bass und Percussion bestückte Combo in einem faszinierenden Crescendo (von Ari Benjamin Meyers) das hochdramatische Geschehen begleitet. Hinreißend ist das und Gänsehaut erzeugend sowieso. Die Verbrechen am laufenden Band, in gleißendes Licht getaucht und in exakter Fließband-Choreografie abrollend, die schaudern lässt.

Ganz gewaltig an den Nerven zerrend ist das bisweilen auch, aber ebenso in hohem Maße so mitreißend wie all die Schauspielerleistungen. Warum Franz Moor, die "Kanaille", gerade von einer Frau verkörpert wird, erschließt sich zwar nicht unbedingt, aber Valery Tscheplanowa verkörpert diese zwielichtige Figur mit einer schier atemberaubenden Bühnenpräsenz. Während Götz Schulte den alten Grafen Moor mit langsam verlöschendem Lebensmut höchst überzeugend abgibt, personifiziert Franz Pätzold den vom Schöngeist zum Revoluzzer mit tragischem Ende abgesunkenen "edlen Verbrecher" Karl Moor kongenial. Und Nora Buzalka verkörpert mit geheimnisvoll erotischer Ausstrahlung Karls Geliebte Amalia, die schließlich von Franz sexuell bedrängt wird, während Thomas Lettow mit Bravour in die Rolle des eiskalten Scharfmachers Spiegelberg schlüpfte. Großartig auch all die Freunde und Speichellecker samt Karls Räuberbande, die mit Schillers pathosgeschwängerten Texten im chorischen Deklamieren auf den Laufbändern ihrem Untergang entgegengehen.

Eine Inszenierung voll Spannung als intellektuelle Herausforderung, eine über weite Strecken ungemein aufwühlende Aufführung mit großartigen schauspielerischen Leistungen, die ganz gewaltig unter die Haut geht. Ein verheißungsvoller, ein fulminanter Spielzeitbeginn im Bayerischen Staatsschauspiel. Ein Theaterereignis.

Weitere Vorstellungen am 2., 3., 23. und 24. Oktober. Kartentelefon (0 89) 21 85 19 40.