München
Apokalyptische Amtsstube

Grandiose Uraufführung von Christoph Marthalers "Tiefer Schweb" in den Münchner Kammerspielen

25.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:53 Uhr

München (DK) Was ist mit Matthias Lilienthal, dem viel gescholtenen Intendanten der gebeutelten Kammerspiele, plötzlich los? Ist er in sich gegangen und setzt des dramatischen Besucherrückgangs wegen nun auf die bewährte Tradition seiner Vorgänger des renommierten Schauspielhauses an der Maximilianstraße, Stücke ins Programm zu nehmen, auf die der Begriff Schauspiel auch zutrifft und die das angestammte Publikum nicht vergraulen?

Kein läppischer Performance-Langweiler diesmal, keine bis zum Überdruss abgespulte Video-Orgie, kein bis zur totalen Unkenntlichkeit verhackstücktes Drama, sondern - endlich wieder! - ein intelligentes Theaterstück mit Tiefgang und bestem Unterhaltungswert. Kein Wunder, Christoph Mar-thaler, der mit hintergründigem Humor gesegnete Schweizer Regisseur der subtilen Seelenanalyse, heiß begehrt und stets jubelnd gefeiert in den renommiertesten Schauspiel- und Opernhäusern zwischen Basel und Berlin, zwischen Zürich, Wien und Paris sowie bei den Festspielen von Salzburg und Avignon, inszenierte sein eigenes Stück mit dem rätselhaften Titel "Tiefer Schweb" als Uraufführung nun in den Münchner Kammerspielen. Eine ebenso herzhafte wie hintersinnige Satire voll schräger Komik und noch schrägerer Musik im Gewand des absurden Theaters. Köstlich.

In einem bis zur Decke einschüchternd holzgetäfelten Raum mit einem protzigen Kachelofen (Bühnenbild diesmal nicht von Marthalers kongenialer Ausstatterin Anna Viebrock, sondern von dem nicht weniger einfallsreichen Duri Bischoff) kommen die mehr oder weniger respektablen Mitglieder der "Zentralen Verwaltungsbehörde der Bodenseeregionen" aus der Schweiz, Österreich und Bayern zusammen. In Aufruhr sind sie, weil im Jahr des Herrn 2046 an der tiefsten Stelle des Bodensees eine von Algen überwucherte Stahltür entdeckt wurde, hinter der sich eine Amtsstube aus dem 18. Jahrhundert verbarg. Die Ausflugsschiffe dürfen seitdem nicht mehr über den archäologischen Fundort in 243 Metern Tiefe mit dem Titel gebenden Geheimcode "Tiefer Schweb" fahren, dem giftige Gase entströmen und der sich zusätzlich auch noch absenkt. Der Horror schlechthin. Blankes Entsetzen also bei dem bis dato so trögen Verein der Bodensee-Anrainer, die nicht nur ihre Gesundheit und ihre Villen in Gefahr sehen, sondern auch den Tourismus-Schiffsverkehr zur Insel Mainau.

Mit einer Lautsprecherdurchsage des Kapitäns des "MS Kreuzlingen"-Ausflugdampfers im nasal-freundlichen Fremdenführer-Sound beginnt's, dass dieser tiefste Punkt des Bodensees nicht mehr überquert werden darf, und mit einer apokalyptischen Zerstörung der entdeckten Amtsstube endet dieses herrliche Satirical voll intelligent serviertem Nonsens. Eine hinreißende kafkaeske und valentineske Symbiose vom Allerfeinsten. Dazwischen zwei Stunden, prall gefüllt mit einer herrlichen Parodie auf die Vereinsmeierei begnadeter G'schaftlhuber, begleitet von Geistererscheinungen aus dem Kachelofen und von Musikeinlagen mit Akkordeon und drei Hammond-Orgeln. Dazu superschlaue Vorträge über die Fisch- und Pflanzenvielfalt im Bodensee, Gespräche der reichlich Ominöses raunenden Taucher, skurrile Frauengeschichten (mit Inbrunst von Olivia Grigolli und Annette Paulmann vorgetragen) und schließlich auch noch ein Arzt namens Tamino aus Illyrien (Hassan Akkouch), der hygienische Pissoirs erfunden hat. Doch zur Einbürgerung in Bayern muss er das Originalrezept der Weißwurst aus dem Effeff aufsagen und die Kunst des Schuhplattelns perfekt beherrschen.

Und bei Marthaler eh klar, dass gesungen wird. Selbstverständlich gottserbärmlich. Vom aktuellen evangelischen Liederbuch als Reminiszenz an das Lutherjahr über "A Whiter Shade Of Pale" und anderen Songs von Procol Harum und Simon & Garfunkel bis zur "Fischerin vom Bodensee ist eine schöne Maid, juchhe". Das ganze Programm zwischen Liturgie, California Dreaming und triefendem Schmalz. Und wenn zum Schluss dieser hinreißenden Satire das Ensemble unter der stets um Contenance bemühten Vereinsleitung von Walter Hess und seine umtriebigen Gesellen (Raphael Clamer, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger und Stefan Merki) in Kitsch-Trachten (von Sara Kittelmann) zwischen Schwarzwaldmädel, Schweizer "Heidi"-Outfit und bayerischen Dirndl- und Lederhosen-Exzessen "O Herz voll Blut und Wunden" anstimmen, da flippte das Publikum vor Begeisterung schier aus und applaudierte sich die Hände wund.

Die nächsten Aufführungen sind am 27. Juni, 2., 7., 9., 13., 26. und 27. Juli. Kassentelefon: (0 89) 23 39 66 00.