Montreal
Sternstunde zur Weihnachtszeit

Die Audi-Jugendchorakademie gastiert auf Einladung von Kent Nagano in Kanada Unvergessliches Erlebnis für Musiker und Publikum

14.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:04 Uhr

Konzert der Nachwuchskünstler: Der Stardirigent Kent Nagano hat nicht nur die Sängerinnen und Sänger der Audi-Jugendchorakademie eingeladen. Auf der Bühne standen auch Mädchen und Buben, die bei der "Kindersinfonie" von Edmund Angerer mitmusizierten. - Foto: Saito

Montreal (DK) Drei Jahre lang hat Kent Nagano im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte das "Vorsprung-Festival" in Ingolstadt organisiert. Dabei zeigte sich der Dirigent als Programmgestalter von Rang. Und in genau gleicher Weise präsentiert der 66-Jährige sich offenbar auch in Montreal, wo er seit 2006 eins der besten Orchester der Welt, das Orchestre Symphonique de Montréal (OSM), leitet. Nagano weiß, wie man mit einer bestimmten Auswahl von Stücken das Publikum packen, ja, begeistern kann. Wie man die Zuhörer zum Bravorufen animiert, bevor überhaupt der erste Ton in den Saal strömt.

Mit der Audi-Jugendchorakademie, die er erstmals in seine zweite (oder dritte) Heimat einlud, gestaltete er eine Art Konzert der Nachwuchskünstler: Bevor die jungen deutschsprachigen Sängerinnen und Sänger drankamen, stand erst einmal ein Kindergarten-Ensemble auf der Bühne: Vier- oder Fünfjährige, die bei der "Kindersinfonie" von Edmund Angerer (1740-1794, das Stück wurde bis vor Kurzem Leopold Mozart zugeschrieben) das OSM mit Tröten, Triangel, Trommel und Vogelgezwitscher begleiten. Kent Nagano gestaltete das kleine Stück, das gewöhnlich von Erwachsenen für Kinder dargeboten wird, mit luftiger Leichtigkeit, immer mit einem freundlichen Blick auf die Nachwuchskünstler, die hinter ihm standen und von einem eigenen Zusatzdirigenten unterstützt wurden. Was für ein Spaß!

Und was für ein Ernst! Denn kurz vor dem Auftritt wurde ein kleiner erläuternder Film gezeigt, darüber, wie wichtig die musikalische Ausbildung für Kinder ist, für Mathematik und andere Fächer und überhaupt für das ganze Leben. Und was in Montreal bereits für Kindergartenkinder getan wird.

Für den Audi-Chor ist der Konzertbeginn eine echte Herausforderung. Denn kann irgendjemand mit dem Charme von fünfjährigen Künstlern konkurrieren? Die Audianer können und beweisen, dass Nachwuchsmusiker auch professionelle Resultate auf höchstem Niveau erreichen könnten.

Nagano hat für den Chor zwei weihnachtliche Werke ausgewählt, von Camille Saint-Saëns das "Oratorio de Noël" und von Bach das "Magnificat". Gerade beim Weihnachtsoratorium des französischen Komponisten geht Nagano einen sehr eigenen Weg, der weit weg führt von den üblichen Interpretationen. Saint-Saëns' Oratorium greift Formen der Barockzeit auf, orientiert sich sogar an Bach und schafft doch etwas völlig Neues. Sein Weihnachtsoratorium hat letztlich so wenig mit der Barockzeit zu tun wie eine neugotische Kirche mit der Gotik. Schon die Behandlung der Orgel ist eine völlig andere. Bei Bach ist sie harmonisches Grundgerüst aller Musik. Saint-Saëns setzt sie dagegen als Klangfarbe des Überirdischen ein, als Erzeuger der Weihnachtsmagie, einer sphärisch schwebenden Aura.

Nagano begreift die Faszination dieser Musik wie kein anderer. So wählt er durchweg fast schon schleppende Tempi, lässt die Klänge sich entfalten, vertraut auf den Farbenreichtum und die Feinfühligkeit seines Ensembles und die grandiose Akustik des Konzertsaals, vermeidet dabei jeden harten, aggressiven Tonfall, ja selbst die heiteren Szenen sind mild-besinnlich. Die Solisten hat Nagano aus dem Chor ausgewählt, es sind durchweg Gesangs- oder Lehramtsstudenten. Ihre eher leichten Stimmen bereichern das Konzept ungemein. Alle singen dabei fantastisch: die Passauer Sopranistin Theresa Pilsl mit golden schimmernder, in der Höhe leuchtenden Stimme, Vera Maria Bitter aus der Gegend von Ansbach bringt ihren warm vibrierenden Mezzo ein. Benedikt Heggemann aus Regensburg hat einen sehr gut geführten, eher dunkel-baritonal klingenden Tenor mit enormer Farbigkeit. Und Marlo Honselmanns Bass kommt so sicher und unangestrengt daher, dass man nur staunen kann. Der Sänger studiert ebenfalls in Regensburg. Beim "Magnificat" orientierte sich Nagano an den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis. Allerdings musizierte das OSM auf modernen Instrumenten. Nagano vermied die manchmal sehr ruppigen, unterkühlten und harten Klänge vieler Originalklangensembles. Wirklich triumphieren konnte der Audi-Jugendchor mit seinen blitzsauberen Koloraturen, der geradlinigen Klangwucht, den leise schwebenden Passagen. Und auch die Solisten machten wieder ihre Sache gut. Allerdings: Gerade bei Bach spürte man, dass sie alle noch Nachwuchs sind. Ein wenig mehr Selbstbewusstsein, etwas mehr Durchsetzungswille würde den Arien guttun.

Und das Publikum? Es ist anders als in Deutschland, unvoreingenommener, etwas unerfahrener vielleicht, begeisterungsfähig. Die Besucher sind meist formloser gekleidet, Anzug und besonders Krawatten sieht man sehr selten. Den langen Ausführungen und Erläuterungen des Maestros lauschten sie mit Interesse, von den Kindern auf der Bühne waren sie zutiefst gerührt, hier klatschten sie begeistert nach jedem Satz. Und der Audi-Chor, das spürte man, haute sie um. Als am Ende noch die deutschen Weihnachtslieder angekündigt wurden, die diesmal Chorleiter Martin Steidler leitete, riefen manche Besucher schon Bravo, bevor der erste Ton erklang. Die Liedarrangements sind teilweise problematisch, drohen mit viel philharmonischem Trompetenschwelgen und schillernden Harmonien die Lieder zu verkitschen. Umso faszinierender, wie schlicht, kultiviert und ohne jede falsche Gefühligkeit der Chor die bekannten Lieder sang. Eine Sternstunde zur Weihnachtszeit!