Montreal
Echo der Vergangenheit

Montreal bringt Marieluise Fleißers Erzählung "Avantgarde" sehr überzeugend als Theaterstück auf die Bühne

07.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:20 Uhr

Montreal (DK) Marieluise Fleißers zu Recht gerühmte Erzählung "Avantgarde" ist derzeit am Theatre l'Espace GO in Montreal, Kanada zu erleben. Sie enthält aus nächster Nähe scharf gesehen, das authentische Porträt des jungen, beunruhigenden Bert Brecht, aber auch das des Sportschwimmers Josef Haindl.

Gleichzeitig zeigt sie exemplarisch die Schwierigkeiten einer Frau in einer von Männern bestimmten Welt, dazu das Aufkommen des Faschismus, der der Avantgarde konsequent den Garaus macht. Regie der Aufführung in französischer Sprache (Übersetzung Hanri Plard) führte der vielfach ausgezeichnete Denis Marleau. Insgsamt 24 Vorstellungen wurden für die Aufführung angesetzt.

Links und rechts der sonst schwarzen Bühne steht je ein sehr heller mit durchscheinender Gaze bespannter Kubus. Der rechte, etwas größere, ist das Gehäuse des Sängers, der, durch die Gaze stets wahrnehmbar, immer wieder daraus hervortreten und die Aufführung mit Brecht-Songs zwischen den einzelnen Teilen von Cillys Erzählung begleiten wird, die ersten in englischer Sprache, die weiteren in Deutsch gesungen.

In den linken Kubus wird sich Cilly Ostermeier während der Aufführung wiederholt zurückziehen. Die Vorderseiten der beiden Kuben dienen gleichzeitig als Flächen für Videoprojektionen (Videos Stephanie Jasmin), sehr zurückhaltend, schwarz-weiß, unscharf, fast verschwimmend und in Zeitlupe gehalten: Großstadtszenen, Girls, ein strömender Fluss, Schemen der Erinnerung.

Zunächst erscheint der Sänger mit Schiebermütze (Jerome Miniere) aus seinem Gehäuse, singt zur Gitarre das Lied vom großen Baal. Dann betritt Cilly Ostermeier die Szene in Gestalt der eindringlichen Dominique Quesne, barfuß, in beigebraunem Kostüm, mit Bubikopf, eine Frau nicht mehr ganz jung. Sie ist Cilly Ostermeier, spricht Fleißers Text, als wäre das alles ihre ureigene Erfahrung: die Begegnung mit dem genialen jungen Dichter, dem sie sofort verfällt, und sein Bestreben, das herkömmliche Theater zu sprengen, ihre Not mit dem rücksichtslosen Genie, vor dem sie in die Heimatstadt flieht, das Treffen auf den ganz anderen Mann dort, Nico, so heißt er hier, eine Erholung für sie, bis er aus der freien Beziehung eine einschnürende macht, die schmerzhafte, fast tödliche Lösung von ihm, endlich die Aufführung ihres Stücks in Berlin und was danach an Üblem über sie hereinbricht.

Cilly sitzt vorne an der Rampe der Bühne, wenn sie dem jungen Dichter in Augsburg lebhaft vom Einfall der Pioniere in ihrer kleinen Stadt erzählt, beginnt zu tanzen, wenn sie von den neuen Freiheiten mit Nico schwärmt, sitzt auf einem Koffer, als sie wieder nach Berlin fährt, wohin sie der Dichter nach seinem großen Erfolg zur Aufführung ihres Stücks gerufen hat, steht mit dem Rücken zum Publikum, blickt in den schwarzen Raum vor sich und hört wie ein fernes Echo der Vergangenheit den Tumult im Publikum zu sich hochbranden.

Die Aufführung endet mit in Zeitlupe flackernden Bildern von der Bücherverbrennung, akustisch mit Marschtritten ganz aus der Ferne. Blackout.

Ein starker Text, eine starke Aufführung, starker Applaus.