Ingolstadt (DK) Bei allen technischen Möglichkeiten, die es heute gibt – von ständig abgreifbaren Clouds bis zu den ausgefeiltesten High-End-Anlagen –, Joseph Haydns musikalischer Sonnenaufgang im Sommer aus den „Jahreszeiten“ kann nur direkt auf der Bühne zur vollen Entfaltung kommen.
Wenn drei Gesangssolisten leise nacheinander einstimmen, damit die ersten Sonnenstrahlen hervorblitzen, die Musik zum Orchester übergeht und dann mit dem 70-köpfigen Chor der große Feuerball vollends den Horizont übersteigt, dann bleibt dem Zuhörer vor Staunen der Mund offen vor diesem musikalischen Naturspektakel.
Zu erleben war dieses große Ereignis am Sonntagabend im Festsaal des Stadttheaters. Kent Nagano eröffnete mit „Die Jahreszeiten“ von Joseph Haydn in Ingolstadt das Vorsprung-Festival im Rahmen der Sommerkonzerte. In diesem Jahr steht es unter dem Motto „Natur und Technik“. Dazu passen „Die Jahreszeiten“, denn sie sind im Gegensatz zu „Die Schöpfung“ ein sehr säkulares Oratorium, das ganz im Sinne der Aufklärung losgelöst von Gottes Schöpfung ist. Nicht umsonst heißt es zum Beispiel im dritten Teil „Der Herbst“ nicht, „O Gott, von dir kommt alles Heil“ sondern „O Fleiß, von dir kommt alles Heil“. Sozusagen das Leitmotiv des ganzen Werkes. Eine Huldigung an den arbeitenden Menschen, der es durch den Einsatz seiner beiden Hände zu persönlichem Wohlstand und dem Wohlstand seiner Gesellschaft bringt. Joseph Haydn und sein Librettist Gottfried Bernhard Baron van Swieten quasi als Vorreiter des positiven Neoliberalismus. Die Assoziation zu Audi muss an dieser Stelle nicht mehr näher erläutert werden.
Abgesehen vom gedanklichen Vorsprung des Werks seiner Zeit war auch das Auftreten und die Erscheinung des ganzen Ensembles ein Vorsprung. Die Audi-Jugendchorakademie trat wie gewohnt in schwarzer Kleidung geschmückt mit signalrotem Schal (Damen) und signalroter Krawatte (Herren) auf. Dazu angepasst das Projektorchester KlangVerwaltung, in dem die Damen Kleider in verschiedenen Rottönen trugen. Im Kontrast dazu: die Sopranistin Marie-Sophie Pollak in petrolfarbener Robe. Ein angenehmes, konventionsaufbrechendes Bild.
Auch in Bezug auf die musikalische Darbietung gilt das genannte Motiv: „O Fleiß, von dir kommt alles Heil“. Die Leistung dieses Ensembles aus Chor, Orchester und Solisten war gigantisch. Was die Sänger und Musiker unter der Gesamtleitung von Kent Nagano für die Zuhörer erarbeitet hatten und zusammen präsentierten, war ein großes Erlebnis. Die Audi-Jugendchorakademie, die von Martin Steidler einstudiert wird, zeigte sich erneut stimmlich sehr ausgeglichen, dynamische Feinarbeit leistend und klanggewaltig. Das Orchester KlangVerwaltung begleitete sensibel und im rauen Originalklang mit vielen historischen Blasinstrumenten: Nie übertönte es die Solisten, sondern gab ihnen immer ein festes Fundament. Musizierte es alleine, blieb es immer definiert klassisch und geriet niemals ins romantische Schwelgen.
Sopranistin Marie-Sophie Pollak war zwar nicht ganz so raumfüllend, allerdings passte ihr sehr junger, hoher und lerchenartiger Sopran, der sämtliche Koloraturen und Kantilenen wunderbar sang, perfekt zur Rolle der Hanne. Tenor Julian Pregardien in der Rolle des Lukas bewies seine gesanglichen Stärken besonders bei lang ausgehaltenen Vokalen. Die Bass-Rolle des Simon übernahm Klaus Mertens. Bei ihm stach, neben der Stimmgestaltung, besonders die Textverständlichkeit hervor. Ein bahnbrechender Abend, bei dem die Akteure mit nicht endendem Applaus belohnt wurden.
