Ingolstadt
Wie können Menschen einander das antun?

23.05.2014 | Stand 02.12.2020, 22:39 Uhr

Signieren nach der Lesung: Die Autorin Ulrike Draesner am Donnerstagabend in der Stadtbücherei Ingolstadt. - Foto: bfr

Ingolstadt (DK) „Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat.“ Diesen Satz von Friedrich Nietzsche hat die mehrfach preisgekrönte Autorin Ulrike Draesner ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (560 Seiten, Luchterhand Verlag, 2014) vorangestellt.

Neun Jahre hat sie daran gearbeitet, recherchiert und gelesen, in Archiven gesucht und den eigenen Vater befragt. Sie hat sich selbst erinnert und ist nach Polen gereist, um Zeitzeugen zu befragen. Zudem hat der Hirnforscher Wolf Singer – bekannt durch seine Forschungen zum freien Willen des Menschen und durch seine von massiver Kritik daran begleiteten Versuchsreihen an Affen und Katzen ihre Arbeit begleitet, erzählt Draesner während der Lesung in der Stadtbücherei am Donnerstag im Rahmen der Literaturtage.

Das alles sind Grundlagen für den Roman, der unterschiedliche Fragen auf inhaltlich hochspannende und sprachlich faszinierende Weise verknüpft: Wie beeinflussen die Erlebnisse und Traumata der Vorgängergenerationen die nachfolgenden? Und: Was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Erzählt wird das Leben des Eustachius Grolmann, eines Affen- und Verhaltensforschers. Doch geschieht dies nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen und aus verschiedenen Perspektiven in sieben großen Kapiteln: aus der Sicht des Forschers Grolmann, aus der seiner Tochter Simone, die ebenfalls an Primaten forscht, aus Sicht eines Psychologen mit polnischen Wurzeln, aus der Sicht der Großeltern-Generation, und schließlich kommt auch des Affenforschers Enkelin Esther zu Wort.

Die Grolmanns stammen aus Schlesien, müssen 1945 fliehen und bauen sich in Bayern ein neues Zuhause auf. Immer mit der Sehnsucht im Herzen nach der verlorenen Heimat, mit den schmerzvollen Erinnerungen an die Flucht der Mutter mit den beiden Söhnen, von denen der ältere, der behinderte, der mit dem Klumpfuß, dabei stirbt.

Der Psychologe entstammt einer polnischen Familie, die wie andere Polen auch 1945 von den Russen aus Ostpolen, Lemberg (heute: Lwiw, Ukraine), nach Schlesien (heute: Westpolen) vertrieben wurden. Er beschäftigt sich damit, wie Vertreibung und Flucht in den Vertriebenen selbst und in ihren Familien nachwirken.

Über allen Geschichten steht die Frage des Affenforschers Eustachius Grolmann „Wie können Menschen einander das antun“ Schließlich hat das bei der Romanfigur auch dazu geführt, sich von den Menschen ab- und den Affen zuzuwenden.

Das Schicksal der vertriebenen Deutschen und Polen, deren Erinnerungen an Kindheit, und Erwachsenenzeit verbindet Ulrike Draesner mit Fakten aus der Primaten- und Hirnforschung. Im Anhang erklärt sie beispielsweise die Yerkisch-Symbole aus der in den USA entwickelten Affensprache. Einige davon hat sie ihren Protagonisten im Text zugeordnet. Zudem bietet sie am Ende des Buches mit dem Hinweis auf die Internetseite www.der-siebte-sprung.de weiteres Material wie beispielsweise Originaldokumente, Zitate der Zeitzeugen und ein Video zur Primatenforschung.

Trotz der Fülle an Themen und Informationen ist der Roman ein sprachliches Vergnügen. Lyrische Textpassagen beschreiben das Aufblitzen von Erinnerungsstücken im Gehirn. So wird der Einfluss von Erinnern und Übertragungen auf die inneren Seelenlandschaften unmittelbar erfahrbar und nachvollziehbar. Mit ihrer weichen Stimme liest Ulrike Draesner die stets in Ich-Form gehaltenen Passagen ihrer Figuren in Dialektfärbung vor. Bairisch: „So ein Schmarrn“. Schlesisch: „Kimm zrück zu mer!“.

Im Publikumsgespräch erzählt sie offen und klug von ihrer Arbeit und ihrem Leben. 1962 geboren, habe sie für den Roman aus der eigenen Familiengeschichte geschöpft, ihr Vater, ein Architekt, sei Vorlage für diesen Eustachius Grolmann. Ulrike Draesner ist in ihrer Geburtsstadt München aufgewachsen und wurde nach dem Abitur 1980 die erste weibliche Stipendiatin der Hochbegabtenförderung des Maximilianeums. Sie studierte Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie an den Universitäten in München, Salamanca und Oxford. Von 1989 bis 1993 war sie wissenschaftliche Assistentin am Münchner Institut für Deutsche Philologie. 1992 promovierte sie, gab aber 1993 ihre wissenschaftliche Laufbahn zugunsten der freien Autorenschaft auf.

Draesner hat inzwischen vier Romane, zwei Gedichtbände und mehrere Erzählbände und Essays veröffentlicht.