Ingolstadt
Wahnsinn nach Noten

"Classic goes Jazz": Die hinreißenden Gurfinkel-Zwillinge begeistern das Ingolstädter Publikum

03.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:14 Uhr

Vater und Söhne: Familiär ging es beim Konzert des GKO zu, als die Gurfinkel-Zwillinge mit ihrem Vater spielten. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Gute Kompositionen halten eine Menge aus: schlechte Interpreten, unglückliche Bearbeitungen und ungeschickte Aufführungen. Sie klingen dennoch immer irgendwie noch ganz gut.

Aber was passiert eigentlich, wenn man das Evergreen aller Klassikkompositionen überhaupt, Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten", mit Klarinetten, Orchester und einem Jazztrio auf die Bühne bringt? In Ingolstadt hat das Georgische Kammerorchester (GKO) das Experiment gewagt. Und das Publikum kam aus dem Staunen kaum heraus.

Das klang dann ungefähr so: Das Orchester setzt ganz konventionell mit dem ersten Satz von "La Primavera", dem Frühling, ein. Die Vögel zwitschern, in diesem Fall trillern der Konzertmeister und besonders die beiden Klarinetten des Duos Gurfinkel. Dann plötzlich, völlig unerwartet dreht die Musik grotesk ab - in Richtung schrägem Jazz. Das Orchester schweigt, das Trio groovt milde im Hintergrund. Und die beiden Klarinettisten wimmern, orgeln, trompeten sich um den Verstand. Eine Explosion der schnellen Töne, der irrwitzig durch die Lagen rutschenden Glissandi. Die Zwillinge Daniel und Alexander Gurfinkel biegen sich in ihren schimmernden Anzügen nach hinten als wären sie Benny-Goodman-Klone. Das ist Wahnsinn in Noten. Bis - auf einmal, als wäre nichts geschehen - das Orchester wieder einsetzt, Vivaldi zurückkehrt und den Satz ganz harmlos ausklingen lässt.

Was war das? Warum klang das so umwerfend? Vor allem weil es die Gurfinkel-Zwillinge waren, die auf der Bühne des Festsaals standen. Jeder für sich beherrscht sein Instrument wie nur ganz wenige auf der Welt. Aber das Publikum erlebte diesen Ausbund an Virtuosität im Doppelpack - ein Wunder der Kunstfertigkeit und zugleich der Natur.

Allein wie die beiden den zweiten Satz des "Frühlings" spielten. Was für ein atemberaubendes Sostenuto, was für ein Sog der Töne, was für eine Reinheit des Ansatzes, was für ein unglaubliches Pianissimo! Und die beiden Gurfinkels sahen nicht nur fast ununterscheidbar aus. Sie spielten auch so, dass man den Übergang vom einen Künstler zum anderen kaum wahrnehmen kann. Zwei Musiker, ein gemeinsamer Geist.

Aber eigentlich waren sie ja zu dritt gekommen. Denn die Zwillinge haben für ein Werk noch ihren Vater Michael Gurfinkel und seine Bassklarinette mitgebracht. Und nun wurden Unterschiede hörbar. Denn wenn die beiden 23-Jährigen musizieren, dann scheinen Leichtgewichtskünstler am Werke. Da flitzen die Läufe nur so dahin, da sprudeln die Arpeggios. Ganz anders der Vater. Michael Gurfinkel ist für die strömenden, seelenvollen Töne zuständig. Wenn er in Shlomo Gronichs Komposition "Mozaik" Klezmer anstimmte, dann weinte die Klarinette, dann verdichtete sich das Schicksal des jüdischen Volkes zum Klagegesang.

Dass man die große jüdische Musiktradition auch ganz anders angehen kann, zeigten die Gurfinkel-Zwillinge am Ende des Konzerts mit Melodien aus dem Musical "Fiddler on the Roof" (in diesem Fall natürlich Clarinets on the Roof) von Jerry Bock. Nämlich als eine Art Gratwanderung zwischen schönem Melos und Melancholie, zwischen volkstümlichem Überschwang und mitreißendem Jazz. Garniert mit akrobatischer Virtuosität.

Das GKO, dessen Aufgabe sonst hauptsächlich darin bestand, den Solisten ein wohlig-warmes philharmonisches Umfeld zu bereiten, hatte seien großen Auftritt gleich am Anfang des Konzerts mit "Cantos de España" von Isaac Albéniz. Das eigentlich für Klavier komponierte Werk dirigierte Evan Christ (im Hauptberuf Chef der Oper Cottbus) mit allergrößter Expressivität. Da verwandelten sich die Georgier mal zu einer Art überdimensionalen Gitarre, um dann plötzlich traurig-schöne Melodien zu zelebrieren. Evan Christ dirigierte so, dass jeder Gedanke, jede melodische Phrase wie eine große Geste wirkte. Christ gestaltete das sehr plastisch, frei und natürlich, fast wie eine Improvisation und so eigenwillig, dass die Georgier manchmal kaum hinterherkamen. Dennoch ein wunderbarer Ausflug in die rein klassische Musik, an einem Abend voller Jazz und Klezmer.