Ingolstadt
Fabelhafter Bibelkrimi

Thomas Hengelbrock dirigiert Händels Oratorium "Israel in Egypt" zum Abschluss der Audi-Sommerkonzerte

29.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:24 Uhr

Salzburger Festspiele zu Gast: Thomas Hengelbrock dirigiert das Balthasar-Neumann-Ensemble - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Wie klingt eigentlich Dunkelheit? In Georg Friedrich Händels Oratorium „Israel in Egypt“ schickt Gott den Ägyptern die sieben Plagen, unter anderem die Finsternis: Fahle Orchesterklänge setzen so langsam an, dass sie kaum Konturen gewinnen, darüber bilden sich bald erschlaffte Chor-Akkorde, fast schon erstorbene Musik. Dirigent Thomas Hengelbrock inszeniert beim Abschlusskonzert der Audi-Sommerkonzerte im Festsaal diese geradezu klangabstinente, erfrorene Musik mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble magisch intensiv.

Um dann sofort umzuschalten und ein blutiges Drama zu schildern: Gott erschlug in Ägypten jede Erstgeburt – man hört unerbittliche Paukenschläge. Händel verliebte sich hier offenbar in die musikalische Lautmalerei: Da springen quakende Frösche in Synkopen, da schwirren Geigen wie Insektenschwärme, prasselt der Feuerhagel.

Effekte und Affekte kommen bei Thomas Hengelbrock im Ingolstädter Festsaal so plastisch und so packend daher, wie man sie sonst wohl kaum je gehört hat. Ein Höhepunkt der Sommerkonzerte zum genau richtigen Zeitpunkt – um nämlich ein kleines Jubiläum zu feiern. Denn seit genau 20 Jahren gastieren Produktionen des bedeutenderen Musikfests an der Salzach, der Salzburger Festspiele, regelmäßig in Ingolstadt. Und fast immer erweisen sich diese Konzerte als einsame Höhepunkte im Kulturleben der Stadt.

Hengelbrocks Interpretation der beiden letzten Teile des Oratoriums, „Exodus“ und „Moses Song“, ist dabei durchaus ungewöhnlich, eine Sicht, an der manch ein Purist der historischen Aufführungspraxis Anstoß nehmen könnte. Denn bei Hengelbrock steht nicht die Klangrede im Mittelpunkt mit ihren tänzelnden, stark phrasierenden Melodielinien. Sondern die reine, dunkel gefärbte Macht des Klanges selbst, der dann urgewaltig, in fast schon stampfender Präzision über das Publikum hinwegrollt, es ergreift und mitreißt. Um dann wieder urplötzlich in mildestes Pianissimo überzugehen, zu hauchen, statt zu donnern – eine Überwältigungsmusik, ein üppiger Klangrausch ist das, der eher an Herbert von Karajans Hochglanz-Ästhetik erinnern mag als an die kleinteilige Tüftelei vieler Originalklang-Ensembles. Und doch ist auch Hengelbrocks Sichtweise historisch, denn fast alle Barockmeister liebten die pure Macht der Lautstärke durch gigantisch besetzte Orchester und Chöre.

Mit seiner extremistischen Sicht gelingt Hengelbrock aber noch mehr. Einem Publikum, das ohnehin schon bei den Begriffen Ägypten und Israel zusammenzuckt und an aktuelle Ereignisse denkt, vermittelt er die ganze grausame Dramatik der Religionskriege. Da grollen die Pauken, die Posaunen röhren im Fortissimo, wenn die Flüsse sich blutig rot färben, Kinder erschlagen werden, das Land in Hagel und Feuer versinkt und Menschen vom Meer verschlungen werden. Es wird nichts beschönigt. Und dann schwenkt Hengelbrock plötzlich um zu Momenten tiefster spiritueller Ergriffenheit, wenn Israel die Gewalt Gottes erkennt, ihn fürchtet und ihm glaubt, und die Musik dabei unendlich weich schimmert.

Hengelbrocks Konzept funktioniert so gut, weil seine Musiker perfekt aufeinander abstimmt musizieren. Da scheint der Chorklang nahtlos in das farbig brandende Orchester eingebettet, packend und ungeheuer homogen. Wuchtige Passagen gelingen genauso perfekt wie feinstes Pianissimo und irrsinnig schnelle Läufe. Händel schildert das Schicksal eines Volkes, und da ist es nur folgerichtig, dass Hengelbrock für die wenigen Rezitative und Arien seine Solisten aus dem Chor nimmt. Unter ihnen sticht besonders der Altist Terry Wey mit seinem geschmeidigen Gesang heraus.

Am Ende gewaltiger Jubel im Publikum und zwei Zugaben. Und die Verwunderung, dass wieder einmal beim Gastspiel aus Salzburg, einem seltenen musikalischen Highlight in Ingolstadt, so viele Sitzreihen im Festsaal frei bleiben.