Ingolstadt
Eine Sternstunde

Jubiläumskonzert des Konzertvereins Ingolstadt: Peter Dijkstra dirigiert Bachs h-Moll-Messe

05.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:43 Uhr

Ingolstadt (DK) "Kyrie! Kyrie!" - Herr, Erbarme dich. Was für ein Aufschrei, was für eine Wucht, die da den Ingolstädter Festsaal erbeben lässt. Vier machtvolle Takte in h-Moll, Chor und Orchester zu einem dichten Klang geballt. Musik wie ein großes Ausrufezeichen, wie ein Tor zu einer anderen Welt. Einer Welt, die der romantische Komponist Franz Liszt den "Mont Blanc der Kirchenmusik" nannte.

Pathetischer, grandioser als in Johann Sebastian Bachs Messe h-Moll kann Musik fast nicht beginnen. Der Dirigent Peter Dijkstra hat die "Hohe Messe" ausgewählt für einen außergewöhnlichen Anlass. Denn an diesem Samstag wurde nicht nur in einem Festkonzert die Jubiläumssaison zum 100-jährigen Bestehen des Konzertvereins eröffnet. Gleichzeitig gab Peter Dijkstra zum letzten Mal ein Konzert mit "seinem" Ensemble, das er mehr als zehn Jahre geleitet hat: dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Und gleichzeitig auch wurde das 70-jährige Bestehen dieses Chores mit diesem Programm gewürdigt. Mehr Abschied, mehr Feierstunde war selten. Und selten auch wurde der weihevolle Anlass so hinreißend, so tiefsinnig musikalisch überhöht.

Dabei ist Bachs h-Moll-Messe ein höchst merkwürdiges Meisterwerk. Denn der Komponist hat hauptsächlich recycelt, Sätze, die er bereits für andere Werke geschrieben hat, erneut verwendet, umgeschrieben, dem Messetext unterlegt - die Messe als geniales Stückwerk. Der Messe merkt man das kaum an - außer vielleicht, dass sie höchst unterschiedliche, manchmal fast weltliche Stimmungen einfängt. Denn das großartige Spätwerk ist auch ein Rückblick auf ein ganzes, vielfältiges Komponistenleben. Und noch mehr: Am Ende des Barockzeitalters ist dieses Werk eine Reflexion auf Jahrhunderte Musikgeschichte. Es wirkt wie die Zielmarke der Barockzeit, in der gleichermaßen Palestrinas altmeisterliche Polyfonie zum Zuge kommt wie der emphatische Opernstil eines Monteverdis und der Charakter des italienischen Concerto grosso.

Bachs Spätwerk jedenfalls markiert einen Abschluss, den Schlusspunkt des Barock und ist deshalb hervorragend geeignet für Dijkstras musikalischen Abschied.

Bewunderungswürdig war an diesem Konzert besonders, wie stark sich der Niederländer auf die Charakteristik von Bachs Musik eingelassen hat. Nicht nur, dass er mit dem Concerto Köln eins der besten Originalklang-Ensembles hinzugezogen hat: Dijkstra hat auch dem bisher eher romantisch ausgerichteten, farbig glänzenden Tonfall seines Chors einen neuen Charakter gegeben. Diese wunderbaren Musiker können auch mit schlanker, knabenhaft reiner, kaum mehr vibrierenden Stimme singen. Bachs Musik wird dadurch erstaunlich leicht, wendig, durchsichtig. Und die Musiker agierten mit kammermusikalischer Finesse - auch durch die prägnante knackig phrasierte Klangrede des Concerto Köln. Deutlich wurde das bereits beim nicht leicht zu dirigierenden ersten "Kyrie" mit seinen manchmal ermüdenden "himmlischen Längen". Dijkstra gelang es hier, ohne je kurzatmig zu werden, immer wieder spannende Binnenstrukturen herauszuarbeiten, einzelne Stimmen anschwellen zu lassen, andere ins Piano zurückzudrängen. Überhaupt die Vielgestaltigkeit dieser Musik: Was für eine weltliche Festlichkeit, welchen Trompeten-Überschwang entwickeln Chor und Orchester beim "Gloria". Was für eine tänzelnde Eleganz beim "Confiteor" oder beim "Osanna in excelsis". Und dann wieder Passagen von irritierender Entrücktheit, in denen die Zeit stehen zu bleiben scheint.

Dijkstra hat, sehr gut passend zum Charakter seines Chors, Sänger ausgewählt, die meist nicht nur auf Barockmusik spezialisiert sind, sondern deren Stimmen opernhafte, metallene Farbigkeit besitzen. Besonders trifft das auf den Tenor Maximilian Schmitt zu mit seiner großen, wohlig-weich vibrierenden Stimme, aber auch auf die etwas kühler intonierende Sopranistin Christina Landshamer. Der Bass Andreas Wolf verzichtete fast vollständig auf ein Vibrato und gab die Arien mit kerniger barocker Klarheit. Am verblüffendsten allerdings sang Anke Vondung. Die Mezzosopranistin gestaltete ein "Agnus Dei", als wäre es für die Ewigkeit bestimmt: unendlich zart, fast gehaucht, manchmal kaum mehr vibrierende Klänge entlockte sie ihrer eigentlich schweren Stimme, die sie dann mühelos ins Fortissimo anschwellen lassen konnte: Ein Klagelied, ein Flehen, niedergedrückt von allen Sünden dieser Welt, ein unendlicher Ruf nach Erlösung. Es gibt in Konzerten ganz seltene Momente voller Magie, in denen einfach alles gelingt, die einzigartig sind. Zu diesen unvergesslichen Glücksfällen gehörte dieses "Agnus Dei".