Ingolstadt
Genie und Wüstling

Die Tragik der Mittelmäßigkeit: Peter Shaffers Erfolgsstück "Amadeus" feiert im Ingolstädter Turm Baur Premiere

25.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:53 Uhr

Foto: DK

Ingolstadt (DK) Was für eine unerträgliche Nervensäge! Wie ein dicker Kater kommt er auf die Bühne gestürzt, verfolgt eine übertrieben toupierte Rokoko-Dame, die wie eine Maus quiekend vor ihm davonläuft. "Ich glaube, du fürchtest dich gar vor der Miez!", schreit er. Und: "Ich glaube, dass du dich gleich vollscheißen wirst"! Es wird gekichert, gekreischt, gefurzt, gefingert und nicht im Gesicht, sondern "am Arsch geleckt" - da in seiner Ehe alles andersherum gehen soll.

Und, wer ist dieser Wüstling? Kein Geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart. Der erste Auftritt des hehren Klassikers in Peter Shaffers Drama "Amadeus", das am Freitag im Turm Baur Premiere feierte, ist drastisch. Zumal er aus der Perspektive des braven Hofkompositeurs Antonio Salieri geschildert wird, der, ziemlich unfreiwillig in seinem Armsessel festgehalten, beobachten muss, wie der Liebling der Götter die Hose herunterlässt. Desillusionierend, peinlich!

Dass Genies zuweilen extreme Charaktere sind, weiß man. Aber kann es sein, dass ein derartiger Kindskopf die packendste, ernsteste und tiefgründigste Musik seiner Zeit schreiben konnte? Als Salieri zum ersten Mal die wundersame Tonkunst Mozarts erlebt, gerät er außer sich, ist hingerissen und verzweifelt - vor Neid. Die Musik der "Gran partita" wirft "dichte Netze aus Schmerz" über ihn. "Mir schien, als hätte ich eine Stimme Gottes gehört." Salieri erkennt, dass er niemals so wird komponieren können, wie dieses fürchterliche "obszöne Kind". Und er ist enttäuscht. In jungen Jahren hatte er eine Art Deal mit Gott abgeschlossen - moralisches Wohlverhalten für den großen Ruhm als Komponist -, jetzt fühlt er sich betrogen. Außergerechnet dieser unwürdige, lächerliche Flegel soll ihn als Komponist in den Abgrund stürzen?

Das Pathos des mittelmäßig Begabten, die Tragik ihrer farblosen Existenz - niemand hat das präziser, menschlicher schildern können als Peter Shaffer in diesem Drama. Seit es 1979 seine Uraufführung erlebte, und vor allem seit Milos Forman 1984 daraus einen oskarprämierten Hollywood-Film machte, ist das Stück auf den Bühnen ein Dauerbrenner - selbst wenn die Geschichte mit der historischen Wahrheit kaum etwas zu tun hat.

Das Erfolgsgeheimnis steckt in den beiden höchst theatralischen Hauptrollen. Mozart, eine Art Popstar des Rokokos, und Salieri, ein kluger, in sich zerrissener, diabolischer Hofkünstler, mit mäßigem Talent.

Vordergründig gesehen ist die Mozart-Rolle die wirkungsvollere: In Ingolstadt spielt Felix Steinhardt ihn wie ein total überdrehtes HB-Männchen mit Hang zu extravaganter Garderobe. Als er das Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" dirigiert, springt er in seiner goldfunkelnden Robe bei jedem Forte übermütig in die Luft, sonst streichelt er mit großen Gesten den Fluss der Musik. Und wenn seine Lieblingssängerin zu den berühmten Koloraturen ansetzt, leckt er sich lasziv die Lippen. Das sieht aus, als wenn Thomas Gottschalk Musiker wäre.

Mit solchen Effekten kann Matthias Zajgier als Salieri nicht wuchern. Aber er gibt dem Publikum die Perspektive auf die Geschichte. Virtuos wechselte Zajgier zwischen dem tattrigen Salieri im Rollstuhl des Jahres 1823 und dem jugendlichen der 1780er-Jahre. Aber natürlich muss er biederer, angepasster wirken. In den großen Monologen hingegen bekommt dieser ewig Mittelmäßige einen Moment der Größe und der Tragik. Zajgier spielt das so ergreifend, dass man das Leiden dieses Menschen nachempfinden kann, trotz aller intriganten Boshaftigkeit, aller Hinterlistigkeit, mit der er Mozarts Existenz hintertreibt und aushöhlt.

Und dann ist da noch Constanze, die überkandidelte Hübsche, herrlich gespielt von Sarah Horak. Wie eine wandelnde Zuckerstange, über und über mit Nippes und Tand behangen und mit einem Toupet so hoch, dass sie beim Laufen das Gleichgewicht kaum halten kann, gondelt sie halsbrecherisch über die Bühne (Kostüme: Matthias Strahm). Bis sie sich nach und nach in eine verbitterte, armselig gekleidete, verarmte Ehefrau verwandelt.

Die anderen Rollen sind affektierte, eitle Höflinge, eindimensionale Karikaturen. Menschen, bei denen mächtig lockende Perücken und unendliche Schichten von Puder und Schminke nur Falschheit, Faulheit und Verschlagenheit kaschieren. Und die dem einzigen Menschen mit wahren Empfindungen, diesen merkwürdigen Mozart, einfach keinen Lebensraum lassen. Unter ihnen - Peter Reisser als Kammerherr, Ralf Lichtenberg als Direktor der Oper, Olaf Danner als Gottfried van Swieten, die beiden Gerüchte streuenden Venticelli Béla Milan Uhrlau und Maik Rogge - sticht Sascha Römisch heraus. Weil er der Rolle des Kaisers Joseph einen besonderen, oder besser gesagt einen besonders komischen Charakter verleiht. Unvergleichlich dieser ratlose Blick in die Weite, dieses joviale Getue, diese immer wiederkehrende Floskel "Tja - das wär's dann wohl", ein echter Running Gag.

Regisseur Nikolaos Eleftheriadis und Bühnenbildner Florian Angerer kommen bei so viel schauspielerischem Elan mit einem Minimum an Bühneneffekten aus. Eine Art riesenhafte Rokoko-Kutsche dient als Empfangssaal und Theaterloge, ein Flügel und Salieris tiefer Sessel stehen im Spielfeld. Ansonsten ist die bereits bestehende Architektur des Turm Baurs hilfreich, die prächtigen Tore etwa, die gelegentlich einen Blick freigeben auf gemalte Kulissen vom Schlossinneren.

Ganz am Ende des Stücks empfiehlt sich der verbitterte, alte Salieri beim Publikum als "Schutzheiliger der Mittelmäßigkeit" - und einen Augenblick wird es ganz hell, das Scheinwerferlicht flutet geradezu über die Tribüne hinweg und beleuchtet sie alle, das Publikum, die Mediokren.

 

Weiter Aufführungen: 28., 30. Juni und am 1., 3., 4., 7., 8., 11., 14., 15., 18., 19., 21., 22. Juli. Karten unter Telefon: (08 41) 305 47 200.