Ingolstadt
Aberwitziges Krimivergnügen

50 Rollen für vier Schauspieler: Viel Jubel für Anatol Preisslers Inszenierung "Die 39 Stufen" im Stadttheater Ingolstadt

28.11.2014 | Stand 02.12.2020, 21:55 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Ein Bühnenbild mit Wow-Effekt: Wer den Zuschauerraum des Kleinen Hauses betritt, sieht ein Theater mitten im Theater. Zwei Logen, viel roter Samt, viel Golddekor – und das mitten in der sachlich-kühlen Zweckästhetik der alten Berufsschulaula. Dahinter: Leere. Es ist ein Bühnenbild mit einem Augenzwinkern, signalisiert mehr Schein als Sein und passt so wunderbar zum Konzept von Patrick Barlows Stück „Die 39 Stufen“, das am Donnerstagabend in Ingolstadt unter der Regie von Anatol Preissler viel beklatschte Premiere feierte.

Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Alfred-Hitchcock- Klassiker von 1935 (nach einem Roman von John Buchan) und zieht seine Komik vor allem daraus, dass sämtliche Rollen – etwa 50 – von nur vier Schauspielern gestemmt werden.

Um was es geht? Eigentlich nebensächlich. Vielleicht so viel: Es gibt einen Helden, mit haselnussbraunen Augen und einem attraktiven Oberlippenbärtchen, der sich auf der Flucht befindet. Vor der Polizei. Vor bösen Agenten. Vor Frauen mit aufreizendem Wimpernschlag – und ihren gewalttätigen Männern. Natürlich wurde er von einer schönen Frau in diese missliche Lage gebracht. Von einer toten Frau. Genauer gesagt, wurde sie mit einem seiner Küchenmesser ermordet. Natürlich nicht von ihm. Auch wenn die Polizei das glaubt. Sterbend gab ihm die sirenenhafte Fremde einen Auftrag. Murmelte von einem Geheimbund. Von Verrat. Nun ist er unterwegs nach Schottland, um das Land zu retten. Trickst seine Verfolger ein ums andere Mal aus. Aber landet immer irgendwie in der Patsche. Im schottischen Hochmoor. Oder an Handschellen gefesselt mit einer anderen schönen Frau in einem Hotelzimmerbett.

Man muss Hitchcocks Meisterwerk aus der Vorkriegszeit nicht kennen, um sich an diesem Abend köstlich zu amüsie-ren. Aber wer es kennt, hat doppelt lachen. Denn Autor Barlow und Regisseur Preissler beginnen im Stil einer „hardboiled novel“, klopfen Stoff und Dialoge auf ihre Komik ab, denken die Rezeptionsgeschichte gleich mit und drehen die längst unfreiwillig komisch geratene Expressivität (so schwarz-weiß wie die Filme war auch die Weltsicht) noch ein Stück weiter.

Darüber hinaus ist Anatol Preisslers Inszenierung auch eine amüsante kleine Lehrstunde in Sachen Theater und Imaginationskraft. Drei Kisten geben da zwei Zugabteile, in denen Fenster und Türen mit selbst gemachten Quietsch- und Knarzgeräuschen auf- und zugehen. Ein über die Bühne gezogenes Bahnhofsschild gaukelt Bewegung vor. Vier Stühle sind in Windeseile ein Auto und ein Hut – Achtung! Linksverkehr! – ein Lenkrad. Ein Schrank kann Hotelrezeption sein, dreht man ihn um, entpuppt er sich als Doppelbett mit Blümchenbettwäsche.

Und dann ist da noch die Soundkulisse: 117 Toneinspielungen – von cineastischer Romantiksoße, die sich ironisch über Liebesszenen ergießt, über bekannte Filmmusikzitate bis zu hektischen Verfolgungsjagd-Untermalungen, Getränk-Eingieß-Geräuschen oder Eiswürfel-Klirren – begleiten, kommentieren, vervollständigen, karikieren, persiflieren das theatrale Geschehen auf der Bühne. Herrlich ist das. Und es verlangt nach hoher Präzision.

Von Regisseur und Schauspielern. Denn das alles wäre nichts ohne die grandiosen Leistungen des Quartetts, das sich mit sichtbar großer Lust auf seine Rollen stürzt. Ein Kraftakt. Olaf Danner als Richard Hannay in 30er-Jahre-Helden-Pose – beherzt, unverzagt, männlich. Bis zur Pause hat er sein Jackett schon durchgeschwitzt. Patricia Coridun glänzt in allen Frauenrollen – von der mysteriösen Agentin mit osteuropäischem Akzent bis zur zickigen Mitgefangenen und der dahinschmelzenden Abenteurerin. Und Jan Gebauer und Peter Reisser teilen sich in irrer Artistik alle anderen Rollen. Als Clownsduo sind sie unschlagbar. Sie spielen mit Klischees, wechseln mitunter im Sekundentakt Rollen und Hüte. Und bisweilen muss einer im selben Augenblick gleich zwei Figuren verkörpern. Ob als Agenten mit Trenchcoat und Schlapphut (samt Straßenlaterne, unter der solche Typen im Film noir nunmal zu stehen pflegen), als geistesschlichte Bobbys, als schrulliges Hotelbetreiberpaar, als exaltierte Conférenciers oder in wunderlicher Frauenkleidung: Am lustigsten wird es dann, wenn sie im Spiel aus der Rolle fallen, oder wenn sie – wie Jan Gebauer im Todeskampf des Prof. Jordan – gar nicht genug kriegen können. Und spielen auf Teufel komm raus. Noch mal sterben. Länger sterben. Schöner sterben. Die Kollegen reagieren gelangweilt oder genervt. Das Publikum kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen. Theater im Theater.

Regisseur Anatol Preissler findet in all diesen Spielarten der Komik die richtige Balance, gibt ein sportliches Tempo vor, setzt auf viele verschiedene theatrale Formen – auch mal auf Schattenspiel mit Hitchcock und Dinosaurier –, macht alles leicht und lächerlich, feiert den Slapstick, überrascht immer wieder – auch in der Wahl skurriler Mittel – und bleibt doch immer ganz beim Kern des Stücks: der Faszination des Theaters.

Nur folgerichtig ist es da, dass sich beim kaum enden wollenden Schlussapplaus einmal alle zeigen, die an dieser rasanten Bühnenshow mitgewirkt haben – vom Ton bis zur Garderobe, von der Maske bis zum Kostüm (wieder mal pfiffige Kreationen von Charlotte Labenz), vom Licht bis zur Soufflage. Ohne all diese Helfer hinter den Kulissen (vor allem beim Umkleidemarathon) kann so ein Stück nicht gelingen. Fazit: Dieses aberwitzige Krimivergnügen sollte man sich nicht entgehen lassen.