Heile Welt und Horrorszenen

06.05.2010 | Stand 03.12.2020, 4:02 Uhr

Kleine Geschichtslektion: Hildegard Schmahl (vorne, hinten Sylvana Krappatsch) erzählt als alte Frau von ihren Erlebnissen. - Foto: Huber

München (DK) Kriegsweihnacht 1943: Unterm Christbaum findet die Familie zusammen. Rumäniendeutsche sind sie, aber sie wissen nicht, auf welcher Seite im Krieg sie stehen sollen.

Heinrich schloss sich freiwillig der Wehrmacht an, während der Vater schon mal das Führerfoto im Ofen in Flammen aufgehen lässt und der Großvater die Leistungen der Vorfahren preist: Um 1200 sind die ersten Deutschen nach Rumänien ausgewandert, im 18. Jahrhundert kamen die Schwaben in den Banat. Freie Bauern sind sie gewesen, die ihre Abstammung immer mit Stolz hochgehalten haben. Eine kleine Geschichtslektion zu Beginn von Gianina Carbunarius "Sold Out", die sich bald in einen Albtraum verwandelt: Mit Videoeinblendungen wird der Einmarsch der Russen in Rumänien gezeigt, die blutige Rache an den Deutschen nehmen. Und wieder sind die Nachkommen der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen im Gewissenskonflikt: Sollen sie sich in Rumänien assimilieren oder die deutsche Sprache und Kultur pflegen? Trotz aller Repressalien der neuen Machthaber entscheiden sich die meisten für die deutsche Identität – bis ein Großteil von ihnen resigniert und nach Deutschland auswandert.

Auf eigenes Erleben und dokumentarisches Material gestützt schrieb die 1977 in der Nähe von Temeswar geborene Gianina Carbunariu den Leidensweg der deutschstämmigen Rumänen in gut zwei Dutzend Szenen nieder, wobei sie besonders auf die Machenschaften des berüchtigten Geheimdienstes Securitate eingeht. Weit über eine Milliarde DM mussten die Aussiedler und die Bundesrepublik als Kopfgeld bezahlen, um rund 170 000 Rumäniendeutsche die Auswanderung zu ermöglichen. Ein Geschäft vor allem für die Generäle des Geheimdienstes, die dabei kräftig abkassierten. "Sold Out" nennt die Autorin ihr Stück, das im Werkraum der Münchner Kammerspiele seine umjubelte Uraufführung erlebte.

"Sold out" ist keine Kopie der Romane der Nobelpreisträgerin Herta Müller, sondern in Carbunarius eigener Regie ein Szenario zwischen Realität und Fiktion. Horrorszenen von Not und Unterdrückung wechseln mit (Wunsch-)Bildern vom westlichen Konsumparadies ab. Und dazwischen immer der Stolz, das Deutschtum trotz aller Anfechtungen bewahrt zu haben. Zunächst symbolisch in einem schwarz geränderten Guckkasten mit einer Plastikfolie davor (Bühnenbild: Dorothee Curio): Ein musealer Schutzraum für Menschen aus einer längst verschwundener Zeit, bis die Schergen der Securitate in diese Idylle eindringen. Einerseits die heile Welt mit glücklichen Menschen, andererseits Bilder von physischer und psychischer Erniedrigung von Menschen. Höchst überzeugend gespielt von Sylvana Krappatsch, Lasse Myhr, Lenja Schultze, Edmund Telgenkämper und Michael Tregor.

Vor allem Hildegard Schmahl als alte Frau, die von ihrer Familienzusammenführung erzählt, geht unter die Haut: Mit wenig Gepäck und viel Euphorie besteigt sie den Zug Richtung Westen. Große Freude, als sie die österreichische Grenze passiert, und unsagbares Glücksgefühl, als sie in Passau ankommt. Doch es folgt Ernüchterung: In ihrer alten, neuen Heimat schlägt ihr Desinteresse bis kalte Ablehnung entgegen. Eine ungemein eindringliche Darstellung. Dazu harte Rockmusik und melancholische Weisen live von "Pollyester". "Sold out" ist eine Uraufführung als faszinierender Theaterabend, ebenso sensibel wie packend.