Gerhard
Unscharfe Betrachtungen

08.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:40 Uhr

Gerhard Richter gilt als bedeutendster Künstler unserer Zeit. Aber sein Werk ist stilistisch so vielfältig, dass es sich kaum einordnen lässt. Der Maler Richter bleibt rätselhaft. Heute feiert er seinen 85. Geburtstag.

Jedes Mal, wenn man Gerhard Richter gegenübersteht, staunt man. Das ist nun "Europas größter Maler", wie ihn die "New York Times" nennt? Der "Picasso des 21. Jahrhunderts", als den ihn der "Guardian" rühmt? Der teuerste Künstler, der einflussreichste Maler? Richter Superstar?

Der Mann selbst bildet den größtmöglichen Kontrast zu all diesen Superlativen. Unscheinbar ist er. Klein, schmal und grau. So einer, an dem man vorbeiläuft. Kurz geschnittener Bart, große Brille. Von einer charmanten Befangenheit im Umgang mit allen, die er nicht schon sehr lange und sehr gut kennt. Er hat sich nie daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen, auch nicht mit fast 85 Jahren. Heute ist sein Geburtstag.

Wie soll man Gerhard Richter beschreiben? Er provoziert nicht wie Sigmar Polke, der seine Sammler vergrätzte und versetzte. Er stilisiert sich nicht wie Markus Lüpertz mit seinen dicken Klunkern und dem Gehstock mit Totenkopf. Er schlägt nicht über die Stränge wie Jörg Immendorff, der wegen seines Kokain-Konsums sogar vor Gericht kam. Nein, Gerhard Richter steht für deutsche Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Disziplin. Im persönlichen Umgang ist er leise, höflich und zurückhaltend. Alles andere wäre ihm unangenehm.

Richters Atelier befindet sich in einem bunkerähnlichen Riegelbau im Villenviertel Köln-Hahnwald. Er schirmt das dahinterliegende Wohnhaus ab. Der Künstler lebt dort mit seiner dritten Frau Sabine Moritz - einer ehemaligen Schülerin - und dem jüngsten Sohn Theodor (11). Nebenan wohnt Stefan Raab. Man fährt hier Porsche oder Jaguar. Richter selbst wird in Veröffentlichungen mitunter zu den reichsten Deutschen gerechnet, was er aber vehement bestreitet. Immerhin bringen seine Werke auf Auktionen bis zu 41 Millionen Euro.

Für seinen Wohlstand hat Richter ein Leben lang hart gearbeitet. Und tut es noch immer. Jeden Tag steht er im Atelier. Warum ausgerechnet in Köln? Reiner Zufall, es geht ihm da nicht anders als den meisten: Irgendwo bleibt man hängen. Geboren 1932 in Dresden, Flucht in den Westen 1961, Studium und dann Professur an der Kunstakademie Düsseldorf. Das ist ganz grob der Lebenslauf. Der Osten steckt immer noch in ihm drin: Wenn er spricht, hört man das Sächsische heraus. Als Künstler ist Richter ein Maler ohne Eigenschaften. Es gibt wahrscheinlich keinen anderen bedeutenden Künstler in der Geschichte, der derart viele völlig unterschiedliche Stile, Richtungen und Themenfelder bearbeitet hat. Er ist vielseitig bis hin zur stilistischen Unkenntlichkeit.

Richter griff fast alle bekannten Genres auf, Landschaftsmalerei genauso wie Seestücke, Porträts, Aktbilder, abstrakte Malerei genauso wie gegenständliche. Aber er fand für jede dieser Richtungen eigene Techniken. Seine abstrakten Gemälde bearbeitet er mit einer Rake. Er kratzt damit über die Oberfläche, entfernt aufgetragene Farbe wieder oder gestaltet Muster. Wenn er gegenständlich malt, wählt er meist Fotografien als Vorlage aus. Die Abbildungen werden von ihm minutiös kopiert, dann allerdings verwischt er seine Gemälde, um einen Eindruck zu erwecken, als würde es sich um die Gleichförmigkeit von verschwommenen Bildhintergründen handeln. Es ist eben in diesen Bildern nichts durch Schärfe besonders hervorgehoben, auch sie sind merkwürdig objektiv.

Oder er kombiniert Farbflächen, wie etwa bei einem 19 Meter hohen Fenster des Kölner Doms. Insgesamt 11 263 Farbquadraten fügte er zusammen, und zwar nach dem Zufallsprinzip - als Zeichen seiner Ungläubigkeit.

In einer Zeit, in der viele Künstler bereits vom Ende der Malerei sprachen, ist es Richter gelungen, für diese Kunstart neue Ausdrucksformen zu finden. Das macht ihn vermutlich so bedeutend.