Gefangen im System von Macht und Gewalt

18.10.2009 | Stand 03.12.2020, 4:34 Uhr

Die ständig präsente Überwachungskamera, die ihre Bilder auf die große Leinwand überträgt, thematisiert nicht nur die übermächtige Inquisition, sondern entwirft auch ein modernes Überwachungsstaat-Szenario. Ludger Engels inszenierte "Don Carlos" in Augsburg. - Foto: Schaefer

Augsburg (DK) Das Zeremoniell zum Start eines Opernabends ist bekannt: Die Lichter verlöschen, Beifall begrüßt den Dirigenten – und mit etwas Glück wird es während der Ouvertüre auch im Publikum still.

Nicht nur, weil Verdis "Don Carlos" in der vieraktigen italienischen Fassung keine solche hat, sondern nur ein einzelnes düsteres Bläsermotiv aus dem Nichts wachsen lässt, bricht Dirk Kaftan am Theater Augsburg aus dieser Routine aus. Der junge Generalmusikdirektor will Neues schaffen – und das schon zum Einstieg, zur Opernspielzeiteröffnung mit "Don Carlos". Er experimentiert gemeinsam mit Regisseur Ludger Engels mit neuen Plätzen fürs Orchester und damit auch mit dem Klang.

Aufbrechende Emotionen

Im ersten und zweiten Akt ist der Orchestergraben in die Szene integriert. Um ihn herum wird gespielt – aus der Musik wächst das Drama. Und das schon zu Beginn: Nach etlichen Schweigeminuten lässt Kaftan das erste Motiv aus völliger Dunkelheit ertönen. Ein wirkungsvoller Effekt, der im Folgenden durch ein detailverliebtes, interessant strukturiertes Dirigat ergänzt wird, dem die untergründig brodelnden, immer wieder aufbrechenden Emotionen wichtiger sind als der große Affekt etwa der Autodafé-Szene.

Nach der Pause dann die Überraschung: Das Orchester sitzt (wie im Tiroler Erl) hinter der Szene. Das ist zum einen musikalisch interessant, da der Klang nun noch strömender, noch pastoser kommt und das sich zuspitzende Drama quasi zu tragen scheint. Auch hier gestaltet Kaftan überraschende Personenporträts: Abscheu und Zynismus gibt es für Philipp II. – und nirgends weint das Orchester so schön um die hoffnungslose Liebe zwischen Elisabeth und Carlos wie in dieser Augsburger Produktion. Bravo für Dirk Kaftans Einstand!

Zum zweiten aber stellt sich bei alledem der Bayreuth-Effekt ein: Kein Orchestergraben lenkt mehr ab vom Bühnengeschehen, das dem Zuschauer nun noch näher auf die Pelle rückt. Ein Effekt, den die Bühnengestaltung (Marc Bausback) noch unterstützt. Wir, die Zuschauer, sitzen auf gleichen Stuhlreihen wie die Protagonisten, für die ihre privaten wie politischen Visionen stets unerreichbar bleiben. Beide betrachten wir so die Liveprojektion des Geschehens auf einer großen Leinwand. "Man ist immer eine Ebene weiter weg vom Objekt der Begierde und auf die eigene Rolle als Betrachter zurückgeworfen", sagt Bausback dazu. Gleichzeitig thematisiert die ständig präsente Überwachungskamera nicht nur die im Stück übermächtige Inquisition, sondern auch den (drohenden) Überwachungsstaat unserer Tage. Wie auch die Inszenierung von Ludger Engels immer wieder auf uns, die Zuschauer, verweist. Wir, die wir statt und zufrieden immer wieder wegsehen, wenn irgendwo auf der Welt Unrecht passiert. Wir, die wir aber auch die Zukunft sind. Wenn die ganze Historie untergeht, bleibt als einziger Aussteiger Carlos übrig, der sich auffordernd an uns, ans Publikum wendet.

Spannende Produktion

Diese Inszenierung ist modern und doch werkimmanent, was nicht zuletzt die Kostüme von Sebastian Ellrich zeigen, die das spanische Hofzeremoniell in seiner ganzen Enge und in so mancher Silhouette zitieren und doch zeitgemäß sind. Eine durchwegs spannende und aufrüttelnde Produktion, die – trotz ein paar nörglerischen Buhs – mit großem Jubel aufgenommen wurde.

Was übrigens nicht zuletzt auch an der Sängerbesetzung liegt. Kein anderes Opus aus Verdis Feder verlangt eine solche Überzahl an stimmgewaltigen Protagonisten. Dass Augsburg dieses Werk rein aus dem Haus besetzen kann, spricht eindeutig für seine Ensemblequalität. Will man in dieser beeindruckenden Gesamtleistung Abstufungen setzen, muss man an die Spitze Kerstin Deschers stimmgewaltige Eboli stellen – und ihr zur Seite Seung-Gi Jungs Marquis Posa, dessen Stimme warm leuchtet und optimistisch strahlt, wie es die Partie denn erfordert. Beeindruckend menschlich, dabei aber auch abgründig der ausstrahlungsstarke Philipp II. von Christian Tschelebiew, herrlich hitzköpfig und tenoral höhensicher aufbrausend Ji-Woon Kim als Don Carlos. Die sicher undankbarste, da ständig leidend-unterdrückte Partie ist in Verdis Opus die Elisabeth. Augsburgs Primadonna Sally du Randt schenkte ihr (zu) viele leise Töne, ihre wahre Stärke aber liegt im dramatischen Ausbruch. Gesamtfazit: Unbedingt ansehen!

Weitere Vorstellungen am 20., 24. und 28. Oktober sowie im November. Kartentelefon (08 21) 3 24 49 00.