Erl
Der Mann mit dem eigenen Opernhaus

27.07.2015 | Stand 02.12.2020, 20:59 Uhr

Foto: DK

Erl (DK) Vielleicht kommt es ja nur alle 150 Jahre einmal vor, dass einem einzelnen Musiker ein eigenes Theater hingestellt wird. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ermöglichte der bayerische Märchenkönig Ludwig II. dem Komponisten Richard Wagner das Bayreuther Festspielhaus.

Und vor drei Jahren bekam der Dirigent und Festivalleiter Gustav Kuhn (69) sein Opernhaus in Erl: eine Bühne, die irgendwie surreal aussieht, eine dunkle, avantgardistische Architektur in Nadelform inmitten einer ländlichen Bergbauern-Idylle. Finanziert hat den 36-Millionen-Euro-Bau in erster Linie der Industrielle Hans Peter Haselsteiner. Irgendwie ein Wunder. Wie überhaupt die gesamte Geschichte des Festivals anmutet, als käme sie nicht aus dieser Welt. Denn während fast überall am Kulturangebot herumgestrichen wird, Orchesterstellen, Produktionen, ganze Theatersparten zurückgefahren werden, blüht die Oper in Erl.

Das Wunder von Erl allerdings ist erklärbar, es hat sogar einen Namen: Gustav Kuhn. Der 69-Jährige ist das Energiezentrum des Festivals. Ein Alleskönner: Dirigent, Kulturmanager, Buchautor, Psychologe, Komponist, Regisseur. Im 1500-Seelen-Dorf Erl ist er so etwas wie der Alleinherrscher. Manche nennen ihn den „Erl-König“.

Richtig berühmt geworden ist Kuhn allerdings nicht durch seine Kunst, sondern durch eine Ohrfeige. Handgreiflich wurde er 1985 gegenüber dem Intendanten am Stadttheater Bonn, wo er als Orchesterleiter engagiert war. Das künstlerische Verständnis zwischen ihm und dem Theaterleiter lag bald so weit auseinander, dass eine Verständigung kaum mehr möglich war. Und als Intendant Jean-Claude Riber dann noch das Spielzeitheft herausbrachte, ohne den musikalischen Leiter auch nur zu erwähnen, war für Kuhn das Maß voll: Er schlug zu.

Die ungewöhnliche Schlagtechnik verfolgt ihn bis heute. Vielleicht zu Recht. Denn die Geschichte zeigt, dass Kuhn ein Mann ist, der sich nicht verbiegen lässt, auch und besonders nicht vom institutionellen Kulturbetrieb. Seit dem Zwischenfall in Bonn hat sich Kuhn mehr und mehr vom Querkopf der Kulturszene zu deren Aussteiger entwickelt. „Als ich 50 wurde, wollte ich nicht mehr nur reden. Ich wollte auch etwas tun“, sagt er heute.

Damals, 1998, gründete er, zunächst mit eigenen finanziellen Mitteln, die Tiroler Festspiele im günstig gelegenen Erl. Von München und Salzburg ist es in kaum einer Stunde zu erreichen, selbst von Ingolstadt aus benötigt man mit dem Auto nur rund anderthalb Stunden. In Erl wollte er damit endgültig zeigen, „wie man es richtig macht“.

Stolz positioniert Kuhn sein Festival gegen die restliche Musikwelt. Da ist die Gefahr zum Sektierertum natürlich nicht weit. Denn für den Österreicher ist die Welt schwarz-weiß, dort der verdorbene öffentlich-rechtliche Kulturbetrieb, hier die heile Welt in Erl.

Aber wie sieht es wirklich aus? Auf jeden Fall eindrucksvoll. Allein das Festspielhaus, das unmittelbar neben dem eleganten weißen Passionshaus aus den 50er Jahren steht, müsste geplagte Münchner und Hamburger Klassikfans vor Neid erblassen lassen. In Erl hörte man (anders als etwa bei der Elbphilharmonie) nichts von aus dem Ruder laufenden Kosten, Verzögerungen und Streitigkeiten. Hier wurde pünktlich eröffnet. Und das Haus übertrifft sogar alle Erwartungen. Stolz spricht Kuhn über den Orchestergraben, der sogar noch 20 Quadratmeter größer ist als derjenige der Wiener Staatsoper. Mühelos lassen sich in dem versenkbaren Graben 160 Musiker unterbringen – eine rekordverdächtige Zahl, die für eigentlich jede Oper ausreichen müsste. Dennoch lässt Kuhn die groß besetzten Wagner-Opern nicht im Festspielhaus, sondern im Passionshaus über die Bühne gehen. Vielleicht weil er einen noch opulenteren Orchesterklang schätzt. In dem alten Theater spielen die Musiker hinter der Bühne und nicht unten im Orchestergraben. Das ist natürlich ein Kompromiss. Denn das Haus ist letztlich für die Passionsspiele eingerichtet, die seit dem 16. Jahrhundert in Erl ausgerichtet werden.

Sinn und Zweck des Festspielhauses ist es eher, auch im Winter einen Festivalzyklus zu veranstalten – was bisher im nicht beheizbaren Passionshaus unmöglich war. Im Sommer zeigt Kuhn hier zudem leichtgewichtigeren Opernstoff von Mozart bis Puccini.

Im Passionshaus herrscht natürlich bereits aus räumlichen Gründen ein Primat des Musikalischen: Auf der Bühne sind große Aufbauten undenkbar, sie würden das Orchester verdecken. Aber Kuhn gehört hier nicht gerade zu den Menschen, die aus der Not eine Tugend machen. Die „Meistersinger“ im Passionshaus, die er wie eigentlich alle Erler Produktionen selbst inszeniert hat, sind vielmehr eine Art konzeptionelle Nulllösung. Es genügt Kuhn offenbar, die Angaben aus Wagners Textbuch mehr oder weniger werkgetreu umzusetzen. Einziger Regie-Kniff: der Kampf der Moderne gegen die altmodischen Sitten der Meistersinger – nach und nach befreien sich die Darsteller von Halskrausen und Pluderhosen, Krinolinen und Schlapphüten, und hervor tritt der moderne Anzug. Zeitenwende in Erl?

Nicht wirklich. Beim „Tristan“ herrscht weiterhin theatrale Ödnis. Ein paar Sitzgelegenheiten mit dem Charme von Parkbänken, einige Segel, eine Treppe. Die Liebenden Tristan und Isolde tappen steif durch die Bühnenleere. Eine Regie findet eigentlich nicht statt – da kann Kuhn im Interview noch so sehr betonen, dass er das Handwerk so intensiv studiert habe wie das Dirigieren.

Das eigentliche Novum ist allerdings das Festspielhaus, in dem heuer erstmals Wagner erklingt. Und das ist wirklich eine Sensation. So voluminös, mit so guter Akustik, so plastisch hat man den „Tristan“ kaum je gehört, wie durch den abgesenkten und verdeckten Orchestergraben in Erl. Und Spaß machen auch die durchweg zügigen Tempi des Maestros, der leichtgängige, südländische Zugang zur Partitur. Das ist sängerfreundlich und suggestiv, packend und nicht so ernst zelebriert wie bei den meisten anderen Wagner-Dirigenten. Tragödien müssen offenbar nicht lähmend langsam dahinkriechen, um das Publikum mitzureißen. Und Kuhn gelingt es immer wieder, erstaunliche Sänger zu entdecken, die kurze Zeit später dann auch in Bayreuth oder bei den Salzburger Festspielen Furore machen. Beeindruckend ist auch sein Festspielorchester, das mit ausgesprochen jungen Musikern besetzt ist. Gerüchte allerdings besagen, dass Kuhn für seine Künstler Dumping-Löhne zahlt. Auch das gehört zu Kuhns Alternativkultur. Ein Niveau also wie in Bayreuth? Genau mit diesem Festival will man sich in Erl immerhin gerne messen. Manche Bewunderer sprechen auch vom „Anti-Bayreuth“. Denn von Anfang an, als Kuhn 1998 mit Wagners „Rheingold“ seine erste Oper im Passionshaus herausbrachte, waren die Wagner-Festspiele in Franken Orientierungsgröße. Gerade die Fixierung auf Wagner hat Erl den größten Ruhm gebracht. Publicityfördernd war da besonders die Aufführung des „Ring des Nibelungen“ im 24-Stunden-Marathon 2005 und 2014. Nach dem „Rheingold“ am Freitagabend folgen „Walküre“ und „Siegfried“ hintereinander von 17 Uhr bis um 4 Uhr nachts. Dann steht nach kurzem Schlaf die sechsstündige „Götterdämmerung“ bereits um 11 Uhr des folgenden Tages an. Ein kräfteraubender Kultur-Dauerlauf, passend zum unverwüstlichen Musik-Berserker Gustav Kuhn.

Wagner in Erl ist also bereits legendär. Auch wenn sich Kuhn gegen dieses Schubladendenken wehrt. Seine musikalischen Götter seien Bach und Mozart, sagt er. Aber nichts wird beim Publikum so nachgefragt wie der „Ring“. In diesem Jahr sei er bereits acht Monate vor der Premiere ausverkauft. „Da haben wir mit Mühe dann noch einen weiteren Zyklus im Programm untergebracht. In diesem Punkt handele ich wirtschaftlich denkend, ganz als Intendant“, erläutert Kuhn und fuchtelt dabei mit den Händen durch die Luft, als wollte er den massenhaften Publikumsandrang bändigen.

Wagner in Erl zieht scharenweise enttäuschte Bayreuth-Fans aus Franken nach Tirol. Wagnerianer, die „Rheingold“ nicht „an einer Tankstelle“ erleben möchten, wie Kuhn es formuliert. „Mir geht es darum, dass nicht private Probleme, die der Regisseur hat, oder das Feuilleton für die Inszenierung maßgeblich sind. Sondern die Darstellung der Musik.“

Gehörig geärgert hat sich offenbar der Unternehmer Hans Peter Haselsteiner in Bayreuth. Bis ihm Freunde rieten, einmal nach Erl zu fahren. Seitdem ist er dort Hauptsponsor.

Und Gustav Kuhn, der Tausendsassa, ist inzwischen auf dem Gipfel seines Erfolgs. Auch wenn er schon lange nicht mehr in den Musentempeln der Welt, von den Salzburger Festspielen bis zur Metropolitan Opera, dirigiert hat. Immerhin hat er es den Kulturpäpsten gezeigt mit seiner kleinen Erler Gegenwelt. Hier bestimmt er alles, von der Musik bis zur Regie. Und auch zeitgenössische Opern benötigt er nicht. „Die schreibe ich gerade selbst“, sagt er und lacht mit hell dröhnender Stimme.