Das Rätsel um den Herzschlag der Zeit

05.11.2009 | Stand 03.12.2020, 4:31 Uhr

Konfrontation mit den grauen Herren: Momo (Olivia Stutz) soll sie zu Meister Hora führen. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) "Es ist ein Momo in unserem Theater", ruft Beppo, der Straßenkehrer, den anderen Bewohnern des lärmigen italienischen Städtchens zu. Wie vom Himmel gefallen scheint es. Zu einer silberhellen Klangtändelei.

Schon in den 70er Jahren hat Michael Ende seinen Märchenroman "Momo" geschrieben, eine hellsichtige Parabel über den Umgang mit der Zeit, die heute – blickt man auf die hektische Betriebsamkeit, die Arbeit und Freizeit gleichermaßen beherrscht – aktueller denn je ist. Denn die Idylle wird durch eine Invasion grauer Herren gestört. Sie tarnen sich als seriöse Geschäftsleute, wollen aber den Menschen die Zeit stehlen. Was keiner wissen darf: Nur die "gesparten" Stunden der Menschen halten die grauen Herren am Leben.

Unter der Regie von Jürg Schlachter feierte die Bühnenfassung von Vita Huber gestern Abend im Großen Haus des Theaters Ingolstadt umjubelte Premiere.

In den Ruinen eines antiken Amphitheaters spielt das Stück. Deshalb hat Bühnenbildner Bodo Demelius ein hölzernes Halbrund ins Zentrum der Bühne gebaut. Doch dieses Rund ist nicht nur multifunktional und kann mit seinen Treppen, Deckeln und Klappen, mit integrierter Pizzabäckerei und Friseurschrank auf wunderbare Weise bespielt werden, die Podeste sind auch verschiebbar. Wenn die grauen Herren mehr und mehr die Welt in ihre Gewalt zwingen, mit ihren Zigarren die Luft vergiften und die Temperaturen auf soziale Eiszeit fallen lassen, wenn die liebenswerten Müßiggänger plötzlich besseren Jobs und mehr Geld hinterherhecheln, dann gerät dieses Weltengefüge in Unordnung, die skelettierte Außenhaut wird sichtbar, wo die Menschen in engen Waben unter Neonröhrenlicht stumpf ihr Dasein fristen. Bis Momo den Kampf gegen die Zeit-Diebe aufnimmt.

Regisseur Jürg Schlachter erzählt "Momo" mit großer Lust am Sinnlich-Theatralen, macht aus dem philosophischen Thriller ein modernes Bühnenmärchen und bricht das lineare Erzählen immer wieder durch die verschiedensten Theaterformen auf. Puppenspiel und Musikeinlagen, lauter "Don Camillo und Peppone"-Klamauk und feines Kammerspiel, Comic-Anleihen und Schattenriss, Sternenhimmel und Meeresrauschen. Tempo- und symbolreich ist die Inszenierung, schreckt vor Kitsch nicht zurück, aber auch nicht vor Emotion. Andreas Dziuk liefert dazu den perfekt abgemischten Sound aus Philip-Glass-Minimalismus, italienischen Schlagern und digitalem Computersirren.

Im Mittelpunkt aber steht eine kleine Crew von Schauspielern, die – bis auf Olivia Stutz in der Titelrolle als Vagabundenkind reinsten Herzens – viele verschiedene Rollen zu bewältigen haben, aber mit so viel Witz, Spielfreude und Präzision agieren, dass man den Eindruck hat, es stünde ein riesiges Ensemble auf der Bühne. Begeisterte "Momo"-Rufe gibt es am Ende für Olivia Stutz, aber auch Peter Greif, Oliver Losehand, Sascha Römisch, Stefan Leonhardsberger, Ole Micha Spörkel, Karlheinz Habelt, Manuela Brugger und Ulrich Kielhorn (mehr Schildkröte geht nicht) werden mit riesigem Beifall gefeiert.

"Es ist ein Momo in unserem Theater." Das sollte man sich unbedingt mal anschauen!

Frei verkaufte Vorstellungen gibt es am 26. Dezember und am 6. Januar jeweils um 16 Uhr.