Neuburg
Ausdruckstanz am Instrument

03.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:37 Uhr

Neuburg (DK) Die Alte Musik benötigt mehr Raum. Die Musiker sitzen nicht auf dem Podium, sie stehen. Mit großem Gestus, schnellen langen Bogenstrichen, manchmal heftigen Bewegungen produzieren sie ihre Klänge: ein Ausdruckstanz am Instrument.

Der Bewegungsrausch ist Zeichen der Substanz dieser Musik. Die Streicher erzeugen nicht mit kurzem Bogen und vibrierenden Fingern auf den Saiten samtigen Schönklang wie die meisten städtischen philharmonischen Orchester. Hier geht es um extreme Dynamik, um explosive Energieentladungen, das Feuer der Empfindungen.
 

Zu bewundern war diese fast schon exaltierte Klangrede auf traumhaftem Niveau beim Gastspiel der Akademie für Alte Musik Berlin (Akam) unter der Leitung ihres Konzertmeisters Stephan Mai im Kongregationssaal im Rahmen der Neuburger Barockkonzerte. So mitreißend kann man Barockmusik nur ganz selten hören.

Im Mittelpunkt des Abends stand einer der faszinierendsten und zugleich unterschätztesten Komponisten des 18. Jahrhunderts: Wilhelm Friedemann Bach, der älteste und wohl auch bedeutendste Sohn von Johann Sebastian. Anlass ist der 300. Geburtstag des Komponisten, der sich heuer am 22. November jährt. Kaum einem anderen Komponisten ist bis heute so viel Unrecht widerfahren. Zu seinen Lebzeiten fand er eher wenig Anerkennung, weil er sich – anders als seine weltgewandteren Brüder – weit weniger auf den heiter-oberflächlichen Zeitgeschmack einstellen mochte. Friedemann Bach hat, wohl eher unfreiwillig als einer der ersten Komponisten überhaupt, sein Leben eher schlecht als recht als freischaffender Künstler gefristet.

Das wilde und provokative Potenzial seiner Musik hat die Akademie für Alte Musik gleich mit dem Eröffnungsstück gewürdigt, der Sinfonie F-Dur (Falck 67): Ein Stück, das nur seiner äußeren Struktur nach den Konventionen der Zeit entspricht, sonst aber den Zuhörer auf eine harmonische Irrfahrt mitnimmt, die an Abgründe vorbei und weit über das ebene Gelände der Barockmusik bis in die alle Sicherheiten auflösenden Strukturen des beginnenden 20. Jahrhunderts führt. So gewagte Kompositionen hat wahrscheinlich außer Johann Sebastian Bach (und Mozart) kein anderer Komponist des 18. Jahrhundert mehr zu Papier gebracht. Die Akademie spielte das in Neuburg wunderbar aufrührerisch grell.

Wie perfekt Friedemann Bach komponieren konnte, wurde auch im folgenden Stück hörbar: Zu einer Fuge Friedemanns hatte Mozart eine Art Präludium (eher im Stil des späten Barocks) hinzu komponiert. Im Wettstreit der Komponisten konnte der Bach-Sohn zweifellos den Sieg davon tragen. Seine hochkomplexe dreistimmige Fuge mit ihrem chromatischen Thema, das in der Mitte in Umkehrung noch einmal verarbeitet wird, ist so genial konstruiert als entstamme sie der Feder von Vater-Bach. Leider hatten die Musiker der Akam gerade bei diesem schwierigen Stück einige Intonationsprobleme.

Wie ungewöhnlich Friedemanns Musik ist, wurde besonders im Kontrast zur Sinfonia D-Dur von Michael Haydn deutlich. Joseph Haydns weniger erfolgreiche Bruder komponiert in der gefälligen Manier seiner Zeit, angenehm und intelligent – aber keinen Augenblick so düster, so fesselnd wie Friedemann. Obwohl auch Haydn sich hier mit einer vorzüglichen, mitreißenden Fuge präsentierte. Die Akademie spielte das mit ruppiger Energie und enormem Drive im Schlusssatz.

Die gefälligere Seite im Wesen Friedemann Bachs wurde nach der Pause mit mehreren Flötenstücken beleuchtet. Was für ein brillanter Improvisator Friedemann Bach wohl gewesen sein musste, wurde bei einigen eher frei gehaltenen Fantasie-artigen Werken für Tasteninstrument deutlich. Die Kraftentladungen dieser Musik deuten bereits bis zu Beethoven voraus. Am Cembalo ließ sich dieser musikalische Sturm nur ziemlich unvollkommen darstellen – auch wenn Raphael Alpermann ein technisch perfekter und höchst einfühlsamer Cembalist ist.

Der Höhepunkt des Abends kam ganz zum Schluss mit der d-Moll-Sinfonia, dem wahrscheinlich populärsten Werk Friedemanns. Mit welcher kühlen Ruhe und Delikatesse die beiden Flötisten Christoph Huntgeburth und Antje Schurrock hier vor weichem Streichergrund ihre Melodien ausspannten und die Dissonanzen aneinander rieben war einfach großartig. Kein Zweifel: Hier wurde einem fast vergessenem Genie mit höchstem Anspruch gehuldigt.