Regensburg
"Wer überlebt, ist so dankbar"

Ursula Putz aus Passau hat die private Seenotrettung Sea-Eye mit aufgebaut Jetzt erzählt sie von den Anfängen

07.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:43 Uhr

Ursula Putz am Ufer der Donau in Regensburg: Die Kreuze wurden für Flüchtlinge aufgestellt, die bei einem Sea-Eye-Einsatz trotz Rettungsaktion gestorben oder ertrunken sind. - Foto: Jädicke

Regensburg (DK) Sie hat die halbe Welt bereist. In den meisten Fällen hat sie nur die schönen Seiten gesehen. Hier fällt es leicht hinzusehen. Ihre wohl wichtigste Reise aber führt die Archäologin Ursula Putz vor die tunesisch-libysche Mittelmeerküste. Hier ertrinken täglich Menschen auf der Flucht nach Europa. Ihr war klar, da wollte sie auf keinen Fall wegsehen.

August 2015. Die Berichte vom Flüchtlingslager im griechischen Idomeni gehen um die Welt. "Ich war entsetzt, wie man die Menschen dort behandelt", sagt Ursula Putz, habilitierte Prähistorikerin und Archäologin aus Passau. Sie hat sich zu einem Gespräch getroffen in einem Regensburger Coffeeshop. Alles sehr bequem. Aber da draußen, im Mittelmeer ertrinken Menschen. "Alle 50 Minuten einer", sagt Sea-Eye-Gründer Michael Buschheuer. Mindestens einer alle ein bis zwei Stunden sagen andere. Buschheuer hat die private Seenotrettung in Regensburg gegründet. Am heutigen Donnerstag brechen die beiden Schiffe von Sea-Eye erneut zu ihrer Mission im Mittelmeer auf. Ursula Putz ist dieses Mal nicht an Bord. Aber sie hat die Seenotrettung mit aufgebaut - und sie war eine der Ersten, die in See stachen. Sie erzählt von den Anfängen und davon was es bedeutet, wenn man jeden Tag Menschen vor dem Ertrinken rettet.

In Regensburg waren damals einige Jugendliche einfach losgefahren in das Lager nach Idomeni. Ausgestattet mit Lebensmitteln haben sie für die Menschen gekocht. Auch Freunde aus dem Bekanntenkreis von Putz waren dabei. "Das hat mich so fasziniert, dass ich dachte, statt auf die Politik zu schimpfen, kann ich selber etwas unternehmen. Dieser Einsatz ohne Umschweife, das hat mich beeindruckt. Da wusste ich: Du kannst auch etwas tun."

Die "Trägheit der Politik" hatte sie immer geärgert. Im Oktober 2015 kommt sie von einer Reise aus Sardinien zurück und liest in der Lokalpresse von der Hilfsorganisation Sea-Eye. Die private Seenotrettung steckt noch in den Kinderschuhen. Keiner der Helfer ist ein Profi. Auch Ursula Putz nicht. Das Schiff war schon gekauft und lag im Stadthafen von Rostock vor Anker. Eine der ersten Aufgaben von Putz bei Sea-Eye ist die Organisation von Rettungsinseln und Rettungswesten. Mehr als 200 Reedereien hat sie damals angeschrieben. Fünf haben geantwortet und gespendet. 700 Westen und acht Rettungsinseln kommen zusammen.

Die grüne Farbe des Schiffs "Sea-Eye" sei auch von ihr, erzählt sie. Schleifen, polieren, eine neuen Schriftzug anbringen. Andere machen den 60 Jahre alten Fischkutter wieder seetauglich. Jeder gibt, was seinen Fähigkeiten entspricht, opfert die Freizeit oder den Urlaub. Inzwischen unterstützen Künstler, Schauspieler und Designer die Organisation - auch viele Ärzte und Experten, die dann bei den Einsätzen vor Ort an Bord sind.

14 Jahre hat Putz an der Universität in Graz und in Regensburg gearbeitet. In den letzten Jahren war die Professorin als Reiseleiterin unterwegs. Ihre ersten Einsätze im Mittelmeer haben sie mehr geprägt als jede andere Reise zuvor. Bis heute ist die Arbeit für die Flüchtlinge keine leichte Aufgabe.

Anfang 2016 begleitet sie die Überführung des Schiffes von Rostock nach Brest. Mehr als ein paar Erfahrungen auf einem Katamaran hat sie nicht. 24 Stunden am Stück, über eine ganze Woche hinweg, tuckert der kleine Dieselkutter Richtung Bretagne. Von dort über die Biscaya und von Malaga nach Licata auf Sizilien. Acht Männer und Frauen sind unter Skipper Markus Neumann an Bord. Es ist die einzige Zeit für die Crew, sich aufeinander einzustellen. Ursula Putz kennt die übrigen Helfer nicht. Beim Einsatz müssen sie ein eingespieltes Team sein. So wenig wie möglich wird deshalb heute dem Zufall überlassen. Die Einsätze sind auch so brisant genug. In den Anfängen war vieles schwieriger.

Heute werde jeder Handgriff geübt, sagt Putz. Das Boot zu Wasser lassen. Heranfahren an die Flüchtlingsboote. Verteilen von Wasser und Schwimmwesten, die Flüchtlinge ansprechen. Auch der Funkkontakt mit der MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) oder der libyschen Küstenwache, die mit einer Milliarde Euro Unterstützung durch die EU nicht nur den Flüchtlingen das Leben zur Hölle macht, sondern auch die privaten Hilfsorganisationen unter massiven Druck setzt. Es kam vor, dass Crewmitglieder verhaftet wurden und erst auf Intervention der Bundesregierung wieder auf freien Fuß kamen. Soldaten der libyschen Küstenwache schießen notfalls auch auf Flüchtlinge und Crewmitglieder, deshalb halten sich die privaten Seenotretter heute weiter draußen auf dem Meer auf.

Als Ursula Putz vor zwei Jahren am 22. Februar 2016 auf dem alten Kutter an Bord ging, wusste sie noch nicht, dass sie heute fest angestellt Menschenleben retten würde. Es war der erste von drei ihrer 14-tägigen Rettungseinsätze. Es schien noch selbstverständlich, dass man Menschen vor dem Ertrinken retten muss. Heute müssen sich die privaten Seenotretter, darunter so renommierte Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, gegen den Vorwurf verteidigen, ihre Rettungsaktionen leisteten kriminellen Schleppern Vorschub. Schlimmer noch: Sie würden mit ihnen gemeinsam Sache machen.

"Absurd" nennt Putz diese Vorwürfe. Die Einsätze der privaten Seenotretter sind umstritten. "Sie erleichtern die illegale Einreise nach Europa", glauben Kritiker. Dabei steht außer Zweifel: Ein Kapitän, der einen in Seenot geratenen Menschen nicht rettet, wird sich vor Gericht verantworten müssen. Es ist und war keineswegs nur ein moralisches Diktat.

Aber nach der Kampagne eines italienischen Staatsanwaltes haben sich die Dinge verändert. Die Seenotrettung ist für Putz mehr denn je eine Notwendigkeit - entgegen aller Anfeindung und Bedrohung durch aggressive Milizen und durch die libysche Küstenwache oder bürokratische Schikanen von EU-Mitgliedsstaaten. Ein mulmiges Gefühl begleitet Putz bei allen ihren Einsätzen. Und das nicht nur, weil der ausrangierte Fischkutter "stark von Backbord nach Steuerbord rollt", wie sie sagt. "Wenn du durch das Fernrohr schaust, fürchtest du bei jedem Gegenstand - es schwimmt ja jede Menge Plastik im Meer - es könnte ein Mensch in Seenot sein." Einer von unzähligen verletzten, apathischen, dehydrierten und verängstigten Frauen, Männern, Kindern und Neugeborenen.

"Ich bin den Menschen ja sehr nahe gekommen. Ich habe ihnen die Hand gereicht." Manche Bilder bleiben im Kopf, wie das von der mit Blinkern markierten Wasserleiche vor einer Rauchsäule, die von einem zerstörten Flüchtlingsboot aufsteigt. "Nach neun Stunden Einsatz bricht die Nacht herein und auf dem Wellen treibt der Tod markiert mit einem Blinker." Ein grauenvoller Moment. "Wer überlebt, ist nach seiner Rettung so dankbar", sagt Putz. Oft hat sie sich aber gedacht: "Wenn Du wüsstest, was auf dich zukommt." Niemand weiß, in welchem Land die Flucht enden wird, ob sie in Europa bleiben dürfen oder ob sie dort, wo sie hinkommen, willkommen sein werden. Diese Gedanken waren auch für Putz "nicht so einfach".

Im Grunde genommen wäre es die Aufgabe staatlicher Organisationen, diese Menschen zu retten, glaubt sie. Stattdessen sicherte die EU im Juli 2017 Libyen weitere 46 Millionen Euro zu, damit die Küstenwache in der eigens dafür eingerichteten, 73 Seemeilen breiten, "Search and Rescue Region" (SRR) Zone vor der eigenen Küste, selbst flüchtende Menschen "rettet". "Wir können nicht mehr tun, als die Menschen mit Wasser zu versorgen, mit Sonnenschutz, Rettungswesten und einer medizinischen Notfallversorgung", sagt Putz. Die Arbeit sei schwieriger geworden im letzten Jahr. Immer häufiger war es vorgekommen, dass Schiffe, die von der Seenotleitstelle in Rom angefunkt wurden, um gerettete Flüchtlinge auf See zu übernehmen, einfach nicht reagierten oder immer länger brauchten, bis sie vor Ort waren.