"Peinlich für die Justiz"

19.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:33 Uhr

"Falsche Geständnisse sind eine Hauptquelle für Fehlurteile", sagt der Kriminologe Henning Ernst Müller. - Foto: oh

Regensburg (DK) Henning Ernst Müller ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Regensburg. Er sieht erhebliche Fehler bei der ersten Hauptverhandlung. Gerd Schneider vom DONAUKURIER sprach mit ihm über den Fall Rupp.

Was macht die Neuaufnahme des Rupp-Prozesses so außergewöhnlich?

Henning Ernst Müller: Aus meiner Sicht sind bei den Ermittlungen vor der ersten Hauptverhandlung erhebliche Fehler gemacht worden: von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Richter. Irrtümer passieren. Aber jetzt so zu tun, als wäre damals alles richtig gewesen, darüber habe ich mich schon aufgeregt. Ein bisschen mehr Selbstzweifel wären angebracht. Der damalige Richter stellt das laut Ihrer Zeitung so dar, als wäre das Urteil nur hinsichtlich der Leichenbeseitigung fehl gegangen. Ich denke, die Verantwortlichen reden sich raus. Für die bayerische Justiz ist das eine peinliche Sache.

 

Die Wiederaufnahme war also fällig?

Müller: Ein klassischer Fall für eine Wiederaufnahme. Auch wenn sich die Staatsanwaltschaft und die zuständige Gerichtskammer in Landshut dagegen gewehrt haben. Deren Argumentation trägt rechtlich nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat klar geregelt, dass ein Prozess wieder aufgenommen werden muss, wenn die Tat anders abgelaufen ist, als es im Urteil dargestellt ist.

 

In einem Internet-Blog weisen Sie auf Widersprüche hin, die Ihnen an dem Fall aufgefallen sind. Welche sind das?

Müller: In dem Urteil sprach der Richter etwa von übereinstimmenden Geständnissen der vier Angeklagten. So stand es jedenfalls in der Zeitung. Jetzt heißt es aber seitens der Polizei, dass nur der Haupttäter, der Freund einer der beiden Töchter, dieses Geständnis mit der zerstückelten und verfütterten Leiche abgegeben hat. Aus der heutigen Sicht stellt sich das so dar: Entweder es gab ein übereinstimmendes Geständnis, das sich ja nun als falsch herausgestellt hat; dann war es eine grob falsche Polizeiarbeit, übereinstimmende Geständnisse von mehreren Beschuldigten zu produzieren. Wenn es aber kein übereinstimmendes Geständnis gab, dann fällte der Richter sein Urteil nur auf der Basis eines einzigen, das dazu auch noch mehr als abenteuerlich war. Für die Version des Erschlagens und der anschließenden Zerstückelung der Leiche gab es ja keine Sachbeweise.

 

Gibt es weitere Beispiele?

Müller: Ja, etwa die Frage, wie Rupps Mercedes beseitigt wurde. Das Gericht ging ja davon aus, dass das Auto von den Angeklagten entsorgt wurde. In der Verhandlung trat ein Arbeiter eines benachbarten Schrotthändlers auf. Er sagte erst aus, dass der Mercedes entgegen seinen vorherigen Angaben nicht in der Schrottpresse beseitigt worden sei. Aber nachdem er von Staatsanwalt und Richter massiv unter Druck gesetzt wurde, änderte er seine Aussage: Ja, das Auto sei dort beseitigt worden. Heute weiß man aber, dass das eine Lüge war. Das Gericht hat also eine Falschaussage veranlasst. Das spricht für eine vorgefasste Meinung, zu der man die Zeugenaussage passend machen wollte.

 

Wie beurteilen Sie die Umstände der Bergung des Mercedes im März 2009?

Müller: Ich bin kein Polizeitechniker. Aber als man erkannt hat, was für ein Auto das ist, hätte man es nicht sofort bergen dürfen. Man hätte auch vorsichtiger sein können. Bei der Bergung hat man offenbar einiges kaputt gemacht.

 

Was erwarten Sie von dem Prozess in Landshut?

Müller: Ich sehe ihn als Gelegenheit, den Ruf der Justiz wieder aufzubessern. Im besten Fall wird der Fall nun ganz aufgeklärt. Aber das ist leider nicht sehr wahrscheinlich.

 

Warum nicht?

Müller: Selbst wenn die Angeklagten schuldig sein sollten, wird man ihnen den Totschlag kaum nachweisen können. Tatspuren sind offenbar nicht mehr erkennbar. Alles spricht ja für Falschgeständnisse . . .
 

. . . die nicht untypisch sind.

Müller: Falsche Geständnisse sind eine der Hauptquellen für Fehlurteile. Die Forschung beschäftigt sich seit langem damit, wie es zu falschen Geständnissen kommt. Einfluss hat zum Beispiel das – durchaus nachvollziehbare – Bestreben der Polizei, bei den Ermittlungen ein Geständnis zu bekommen. Da wird natürlich auch Druck auf die Verdächtigen ausgeübt. Leute, die intellektuell eher einfach strukturiert sind, lassen sich leichter unter Druck setzen. Was auch häufig eine Rolle spielt, sind ein paar Wochen in der U-Haft. Die Haft übt einen gewaltigen Druck aus. Leider werden Geständnisse manchmal nicht mehr kritisch genug überprüft, selbst wenn sie widerrufen werden.

 

Der angebliche Haupttäter im Fall Rupp hat sein phantasievolles Geständnis während der U-Haft abgelegt, oder?

Müller: Ja, nach drei Monaten.