München
Gutachter: Zschäpe ist weiter gefährlich

Psychiatrischer Sachverständiger stellt im NSU-Prozess die Weichen für eine lange Haftstrafe

18.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:46 Uhr

München (AFP) Beate Zschäpe ist nach Einschätzung des psychiatrischen Gutachters im NSU-Prozess schuldfähig und möglicherweise immer noch gefährlich. Der Sachverständige Henning Saß legte gestern die Grundlage dafür, dass die Angeklagte für viele Jahre ins Gefängnis kommen könnte.

42 Jahre ist die seit gut fünf Jahren in Untersuchungshaft sitzende Zschäpe alt. Folgt das Gericht in seinem Urteil dem Gutachter, dürfte sie deutlich über 60 Jahre alt sein, bevor sie das Gefängnis wieder verlassen darf - falls sie überhaupt je freikommen wird. Denn Saß stuft Zschäpe nicht nur als voll schuldfähig ein. Er diagnostiziert auch fehlende Reue, was eine vorzeitige Freilassung ausschließt. Vor allem hält er Zschäpe noch immer für brandgefährlich.

In der Fachsprache heißt das bei dem zu den Koryphäen der deutschen Gerichtsmedizin zählenden Gutachter, es könne nicht von einem grundlegenden Wandel in der Gesinnung Zschäpes ausgegangen werden. "Für eine solche Änderung fehlen viel mehr belastbare Anhaltspunkte." Saß kommt deshalb zu dem Schluss, dass "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" davon ausgegangen werden müsse, dass Zschäpe wieder so handeln würde.

Die über weite Strecken des im Mai vier Jahre dauernden Prozess meist stumm und teilnahmslos auf ihrem Platz sitzende Zschäpe scheint die Klarheit des Gutachtens zu treffen. Obwohl ihr schon das vorläufige Papier mit einer ähnlichen Tendenz bekannt war, redet sie in einer Pause intensiv auf ihren Rechtsanwalt Hermann Borchert ein. Dieser macht dabei zahlreiche Notizen, antwortet Zschäpe, bekommt von dieser wieder Neues gesagt. Eigentlich wollte Borchert direkt auf das Gutachten reagieren und Fragen an Saß stellen, die dessen Expertise erschüttern sollten. Nun bittet er um eine Verschiebung seiner Fragen, die Inhalte scheinen ihn und Zschäpe zumindest in Teilen überrascht zu haben.

Erst seit Borchert zusammen mit dem jungen Anwalt Mathias Grasel in das Verfahren einstieg, gibt es überhaupt Äußerungen Zschäpes zur Anklage. Die vorherigen Verteidiger rieten zum konsequenten Schweigen. Doch nach dem Einstieg Borcherts und Grasels änderte Zschäpe diesen Kurs. In ihren Stellungnahmen beschrieb sie sich als zu schwach und zu abhängig von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, um deren zehn Morde zu verhindern.

Diese Darstellung zerpflückt der Gutachter als unglaubwürdig. Zschäpe habe die Männer im Griff gehabt. Sie habe "energische, kämpferische Eigenschaften" und sei ein "wehrhaftes und anerkanntes Mitglied in der rechten Szene" gewesen. Dazu komme ein dominantes und manipulatives Verhalten.

Allein die Reputation des Experten dürfte es den Verteidigern schwer machen, sein Gutachten zu erschüttern. Dazu kommt seine präzise Darstellung und Argumentation. So geht er auch auf die Variante ein, wie Zschäpe zu bewerten sei, falls ihre eigenen Erklärungen zuträfen. Saß kommt dabei aber zu dem Ergebnis, dass weder ihr Auftreten im Prozess noch die vielen Zeugenaussagen die Selbstdarstellung als unterlegene, hilflose Frau stützen könnten. Auch eine Abhängigkeit von Mundlos und Böhnhardt sieht Saß nicht, weshalb auch trotz des Wegfalls der Dreierkonstellation nach deren Tod 2011 die Risiken einer Wiederholung weiter bestünden und Zschäpe weiter gefährlich sei. Saß regt für Zschäpe eine Therapie an - dafür seien aber "viele Jahre" nötig und überhaupt der Wille, sich vom Rechtsextremismus zu lösen. Ohne diesen Weg dürfte es sehr schwer für sie werden, freizukommen.