Kriegserfahrungen
"Schröcklich war der Krieg für jedermann"

16.06.2015 | Stand 02.12.2020, 21:11 Uhr

Ungewöhnliche Einblicke in das Leben eines Fußsoldaten erhalten die Besucher in Essing. - Foto: Janda

Kriegserfahrungen prägen ein Leben lang. Diejenigen, die das Glück haben, in einer Zeit zu leben, in der in Deutschland große Schlachten, massenhaftes Töten und Sterben, Flucht, Vertreibung und Zerstörung nur noch wie eine hässliche Erinnerung an längst vergangene Epochen klingen, können sich kaum vorstellen, wie es gewesen sein muss, dieses Leid tatsächlich am eigenen Leib zu erfahren.

Wer doch einmal die Möglichkeit erhält, Zeitzeugen über den Krieg reden zu hören, bekommt ein Gespür dafür, dass sie das Erlebte nie vergessen haben.

Für alles andere – Fakten, Jahreszahlen, Kriegsverläufe – stehen Geschichtsbücher parat. Doch je länger her die Schlachten, desto weniger werden die gesicherten Informationen und vor allem die Zeitzeugenberichte. Erhaltene Zeugnisse aus dem Napoleonischen Krieg sind eine Seltenheit, vor allem dann, wenn sie von einfachen Soldaten verfasst wurden. Wer hatte schon Muße, während eines Feldzuges zu Beginn des 19. Jahrhunderts – zu Fuß und schwer bepackt – der Nachwelt etwas zu hinterlassen?

Umso verblüffender ist das, was der Infanterist Josef Deifl (1790 bis 1864) aus Essing im Landkreis Kelheim getan hat. Der Soldat der bayerischen Armee führte Tagebuch über seine Erlebnisse im Feld und gewährt dem Leser dabei rare und ungewöhnliche Einblicke in den Kriegsalltag. Das Schicksal Deifls und seiner Kameraden ist nicht nur Thema in der Landesausstellung „Napoleon und Bayern“ im Neuen Schloss in Ingolstadt. Die Marktgemeinde Essing widmete ihrem wohl größten Sohn zu seinem 150. Todestag eine Ausstellung.

Deifl kämpfte von 1809 bis 1815 im fünften Infanterie-Regiment des bayerischen Heeres. 1812 marschierte er für Napoleons Grande Armée im Russland-Feldzug – und überlebte. Allein die Entfernung, welche die Soldaten damals zu Fuß zurücklegten, war für viele Männer tödlich: Ab März 1812 marschierte Deifl von Nürnberg durch Sachsen und Schlesien bis nach Vilnius und weiter nach Königsberg, Breslau, Warschau, Minsk und Kiew. Auf dem Rückweg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er aber später wieder entlassen wurde. Bis zu seiner Rückkehr nach Nürnberg im April 1814 hatte der Soldat 5000 Kilometer zurückgelegt – Luftlinie. Die tatsächliche Marschentfernung dürfte noch um ein Drittel höher gewesen sein.

Warum er im brutalen Kriegsalltag noch die Herausforderung auf sich nahm, seine Gedanken in einem Tagebuch festzuhalten, wird mit dem zentralen Zitat aus Deifls Aufzeichnungen deutlich: „Seht, was da geschrieben ist, war zugunsten des ewigen Friedens.“ Er wollte ein Mahner sein, der seiner Nachwelt klarmachen wollte, was der Krieg für jeden einzelnen Soldaten bedeutet. „Schröcklich war der Krieg für jedermann, drum wünscht sich nur niemand einen Krieg“, notierte der Essinger an anderer Stelle. Josef Deifl war ein außergewöhnlicher Kriegsberichterstatter. In dieser Genauigkeit gibt es für die Napoleonischen Kriege kaum ein vergleichbares Schriftstück. Und der Blick in das Tagebuch verblüfft: Berichte über Kälte, Hunger und tote Pferde, die in der Not zur Nahrungsquelle werden, zeugen von dem gnadenlosen Leben des einfachen Soldaten. Doch Deifl, ein offenkundig lebensfroher und humorvoller Zeitgenosse, ließ sich auch während des Feldzuges seinen Witz nicht nehmen. Zur Schlacht bei Austerlitz (1805) stellte er fest: „Bey Austerlitz hat’s geblitzt, da haben die Russen geschwitzt.“

Auch andere Soldaten, das verdeutlichen die Tagebucheinträge des Essingers, flüchteten sich in ihrer ausweglosen Situation in den Galgenhumor. So war Deifl anwesend, als neun Tiroler Soldaten gehenkt wurden, weil sie nicht zur bayerischen Armee überlaufen wollten. Einer von ihnen, so notierte es Deifl, stellte trocken fest: „Lieber kaiserlich sterben als bairisch werden.“ Im Gegenzug versprach ein Tiroler Pfarrer im selben Feldzug: „Wer einen Baiern totschlägt oder schüßt, der gewinnt 100 Jahre Ablass.“

Es sind diese kleinen, persönlichen Momente, die den Infanteristen Josef Deifl zu einem besonderen und womöglich einzigartigen Kriegsberichterstatter machen. Das kann kein Geschichtsbuch.

 

Nächsten Mittwoch geht es um Kunst und Kultur zur Zeit Napoleons.