Kösching
Kindsmörderin oder selbst Opfer?

26.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:51 Uhr

 

Kösching (DK) Die beiden Gendarmen erschienen schon in aller Frühe auf dem Seel-Anwesen. Gegen 5 Uhr soll es gewesen sein, als sie in der Metzgerei und dem Gasthaus, zu dem auch ein Bauernhof gehörte, in Kösching (Kreis Eichstätt) auftauchten. Es waren nicht Hunger und Durst, die sie hergeführt hatten, sondern ein dienstlicher Auftrag.

"Wir müssen die Kathl mitnehmen, es liegt etwas gegen sie vor", erklärte einer der Polizisten dem Hausherrn mit ernster Miene. Gemeint war Katharina Kettner, 23 Jahre alt, und als Magd am Hof beschäftigt. Doch der Gendarm Hias Neidinger und sein namentlich nicht mehr bekannter Kollege zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Denn die Frau war plötzlich spurlos verschwunden – bis heute.

Der mysteriöse Kriminalfall hatte sich schon 1929 ereignet. Vor 20 oder 30 Jahren kannten noch viele Menschen in der Marktgemeinde die Geschichte von der untergetauchten Magd, die im Haus mit der Nummer 64 im Ort aufgewachsen war. Heute befindet sich dort die Kugelstraße 27. Damals zählte die Gemeinde 3150 Köpfe, jetzt sind es dreimal so viele. Wohl deshalb gerät das Schicksal der 23-Jährigen zunehmend in Vergessenheit, denn während die Alten sterben, fehlt zugezogenen Neubürger oft der Bezug zu solchen Dingen.

Ein paar Leute finden sich aber noch, die mit dem Namen Kettner-Kathl, wie sie im Ort allgemein hieß, etwas anfangen können, wenigstens vom Hörensagen. Und sie rätseln bis heute über ihren Verbleib. Wie Walburga Seel, inzwischen 90 Jahre alt und frühere Seel-Wirtin. Sie ist die Schwiegertochter des damaligen Hofbetreibers Max Seel. „Das ist immer ein dunkler Fleck in unserer Familie gewesen“, erinnert sie sich.

Der dunkle Fleck, das war ein totes Neugeborenes, vom Hund der Seels im Februar 1929 vor dem Haus ausgegraben. Jemand hatte es offenbar kurz zuvor dort verscharrt. Der Verdacht fiel sofort auf Katharina Kettner, denn zuvor war schon gemunkelt worden, sie könnte schwanger sein. Seinerzeit eine Schande für eine ledige Frau. Und einen Tag vor dem Leichenfund hatte sie über starke Bauchschmerzen geklagt. „Frau, ich kann heut’ net arbeiten“, hatte die 23-Jährige bei der Hausherrin geklagt und sich in ihre karge Kammer zurückgezogen. Den Doktor wollte sie partout nicht konsultieren.

Tags darauf war die Magd wieder zur Arbeit erschienen, blass zwar, aber sonst unauffällig. Bis dann die Nachricht von dem Leichenfund die Runde machte, und die Polizei auftauchte. „Die Kathl ist gerade in der Küche gewesen, beim Feuermachen“, weiß Walburga Seel aus den Erzählungen ihrer Schwiegermutter. „Das mit dem Kind hat sie bestritten und behauptet, es sei von Zigeunern über den Zaun geworfen worden.“ Die Magd erklärte sich aber bereit, den Gendarmen zu folgen. „Sie wollte bloß ihren Mantel aus der Kammer holen, es war ja kalt.“ Katharina Kettner verschwand nach oben. Es sollte das letzte Lebenszeichen der jungen Frau sein. Während die Gendarmen arglos mit dem Hausherrn sprachen, um die Wartezeit zu verkürzen, machte die 23-Jährige sich über den Hintereingang davon. Seither hatte nie wieder jemand etwas von ihr gehört oder gesehen.

Geredet wurde umso mehr. „Die Kathl ist zum Kindsvater geflüchtet, der hat sie erschlagen und verscharrt, genau wie vorher das Kind, damit sein Fehltritt nicht aufkommt“, sagten die einen – und hatten verschiedene Hofbesitzer rundherum im Verdacht. „Die Kathl ist zu einer Verwandten nach Amerika“, mutmaßten die anderen. Tatsächlich gab es eine Schwester jenseits des Atlantiks. Sie lebte dort bis zu ihrem Tod 1981 in einem Orden.

Belege existieren weder für diese noch für jene Version. „Aber immer, wenn ein Bauer gestorben ist, wollten die Leute wissen, ob er vielleicht auf dem Sterbebett noch ein Schuldbekenntnis abgegeben hat“, erzählt Siegfried Betz, früher Bürgermeister von Kösching. Der 71-Jährige kann sich noch gut an Katharinas Mutter erinnern. „Die Kreszenz ist immer zu einer Nachbarin von uns gekommen und hat jedes Mal über die Kathl gesprochen. Immer wieder dasselbe, sie hat das nie verkraftet.“ Mit den Seels war die Kettner-Kreszenz bis kurz vor ihrem Tod übers Kreuz. Erst 1964, auf dem Sterbebett, söhnte sie sich mit der Dienstherrin Katharinas aus. Ihren Gram über das Verschwinden der Tochter nahm sie mit ins Grab.

Dabei hatte es sechs Jahre zuvor so ausgesehen, als käme Licht ins Dunkel. Bauarbeiter waren im April 1958 im Hof vis-à-vis des Seel-Anwesens auf ein Skelett gestoßen. „Jetzt haben s’ die Kathl gefunden“, ging es wie ein Lauffeuer durch den Ort. Amtsarzt Dr. Söltl und Kreisheimatpfleger Koislmeier inspizierten den Fund. Die Art, wie die Knochen unter der Erde lagen, und ein Loch im Schädel ließen den Schluss zu: Hier ist jemand gewaltsam getötet und in Eile verscharrt worden. In der Rechtsmedizin entpuppte sich das Skelett aber zum einen als das eines Mannes, zum anderen war es schon rund 1300 Jahre alt – die Überreste eines Ritters, der durch einen Lanzenstoß gestorben war. So bleibt das Schicksal der Kettner-Kathl bis heute ungeklärt.

Eine heute 74 Jahre alte Köschingerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat derweil ihre eigene Erklärung. „Meine Mutter hat mir oft davon erzählt. Sie ist damals auch Magd gewesen, das waren ganz arme Wesen. Als Bauerndirn, hat sie immer gesagt, bist du doch Freiwild gewesen bist, manchmal für den Hausherrn, manchmal für die Knechte oder auch noch für andere. Wenn dann eine schwanger war, hat man nichts mehr von ihr wissen wollen.“ War es der Kettner-Kathl vielleicht genau so ergangen?

Von ihrer Mutter, so sagt die 74-Jährige, wisse sie, dass jemand aus Großmehring an jenem kalten Februarmorgen 1929 eine völlig verstörte Frau in Richtung Donau habe laufen sehen – „nur mit Pantoffeln, wirrem Haar und leicht bekleidet. Wahrscheinlich hat die Kathl sich damals voller Verzweiflung ins Wasser gestürzt.“