Ingolstadt
Der neue Peter

Nach dem Tod der Partnerin wird Peter zum Alkoholiker. Er verliert seine Arbeit, seine Wohnung und seinen Lebensmut. Bruder Martin von der Straßenambulanz St. Franziskus in Ingolstadt gibt ihm eine Chance.

22.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:16 Uhr

Ingolstadt (DK) Ein Mann - zwei Gesichter. Das auf dem Foto zeigt einen Typen mit grauen Haaren und Stoppelbart. Er wirkt leicht aufgedunsen, die Augen sind müde und ein wenig blutunterlaufen. Ein bohrender Blick - irgendwie traurig und leer. Peter betrachtet das Foto, auf dem er viel älter wirkt, als er heute ist. Er lacht. "Welten liegen dazwischen", meint er. Er sei ein anderer Mensch geworden. Mithilfe der Straßenambulanz und Sprungbrett, einem Projekt für den beruflichen Wiedereinstieg Langzeitarbeitsloser.

Das Foto entstand vor eineinhalb Jahren. Peter ist zu dem Zeitpunkt schwer alkoholkrank und obdachlos. Der Kampf ums Überleben kostet ihn alle Kraft, alle Gedanken kreisen darum, nur diesen einen Tag zu schaffen. "Man lebt nur noch von einem Tag auf den anderen. Mir war alles egal - auch, ob ich weiterlebe oder nicht." Denn seine Gefährtin ist tot. Seine Rita, mit der er 23 Jahre seines Lebens verbracht hatte. "Wir sind zusammen wandern, ins Kino oder Theater gegangen." Nach ihrem Tod 2013 verliert er in seiner Einsamkeit den Halt: "Ich saß alleine in der Wohnung mit den ganzen Erinnerungen an sie: Ihre Nähmaschine, die historischen Kostüme - all das hab' ich entsorgt oder der Caritas geschenkt." Aber das hilft nicht.

Peter versucht, die quälenden Erinnerungen mit Alkohol wegzuschwemmen. Täglich trinkt er eine Flasche Wodka und mehrere Flaschen Bier. Seine gefährliche Arbeit als Gerüstbauer kann er so nicht mehr ausüben. Er erhält Abmahnungen und verliert am Ende seine Stelle. Und danach die Wohnung. "Dann geht es immer tiefer abwärts."

Peter ist nicht einmal mehr fähig oder willens, sich Hilfe zu suchen, zum Beispiel Arbeitslosengeld oder eine Sozialwohnung zu beantragen. Hat keine Kraft, sich darum zu kümmern. Er schläft auf Parkbänken. Er wäscht sich auf öffentlichen Toiletten oder am Brunnen vor der Straßenambulanz. Manchmal geht er zum Mittagessen ins Gnadenthal-Kloster. Seine paar Habseligkeiten trägt er in Plastiktüten mit sich herum oder versteckt sie irgendwo im Gebüsch. Sein Mobiltelefon wirft er im Suff in die Donau, weil noch Bilder und Nachrichten von seiner Rita darauf gespeichert waren.

Er sammelte Flaschen aus Mülltonnen und in Parks, wenn Jugendliche dort gefeiert hatten, um sich vom Erlös Schnaps und Zigaretten zu kaufen. Wenn es gut läuft, kommt er auf fünf Euro am Tag, oft ist es weniger. Betteln mag er nicht. Manchmal spendiert ein Kumpel Zigaretten oder eine Flasche Bier. Freunde hat Peter nicht mehr. "Ich war ein Einzelgänger."

Diese Art zu leben sei schwer zu beschreiben, meint Peter. "Man muss immer schauen, wie es weitergehen soll. Man ist immer nur in Gedanken: ,Was mach' ich jetzt'" Ein Jahr lebt er als Obdachloser. "Einmal schlief ich auf einer Bank vor dem Stadttheater. Da hat mich eine feuchte Schnauze angestubst und geweckt. Das war der Phil, der Hund vom Bruder Martin." Das Tier hatte wohl den richtigen Riecher: Bruder Martin spricht Peter an und hilft ihm. Nach einiger Zeit bekommt Peter eine Notschlafstelle in der Straßenambulanz St. Franziskus im Herzen von Ingolstadt. "Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Plötzlich hat man ein Bett, eine Dusche, Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Mithilfe von Bruder Martin hab' ich es auch geschafft, auf die Ämter zu gehen, einen neuen Ausweis und Arbeitslosengeld zu beantragen. Ich war ja nicht mal krankenversichert."

In der Straßenambulanz herrscht Alkoholverbot. Mit dem Trinken aufzuhören fällt Peter schwer. "Ich war zur Entgiftung im Klinikum. Der Entzug war nicht schön. Diese Woche war die schlimmste Zeit überhaupt." Aber da gibt es ein Sprungbrett in ein anderes Leben: Bruder Martin ermöglicht es Peter, für die Straßenambulanz und die dazugehörende Casa Chiara im mittelfränkischen Örtchen Offenau zu arbeiten. Peter kümmert sich als eine Art Hausmeister in dieser therapeutischen Wohngemeinschaft um alles, was so anfällt. Das Haus liegt idyllisch im Grünen, umringt von Obstgarten, Gewächshaus und Blumenbeeten. Auch Tiere gibt es dort: einen Esel, Schafe, Hühner. "Und Bienen", sagt Peter. "Wir machen sogar unseren eigenen Honig." Für ihn ist es dort wie im Paradies: "So ruhig und entspannt. Die Arbeit im Garten und mit den Tieren gibt mir ein Glücksgefühl. Das ist einfach Freiheit. Ich bin ja auf dem Dorf aufgewachsen - deshalb bin ich so tierlieb."

Auch in der Straßenambulanz macht Peter sich nützlich: "Ich tu' alles, was Bruder Martin mir anschafft: Einkäufe rauftragen, zur Post gehen, den Hof kehren." Während er so erzählt, huscht immer wieder eine Frau im Kittel vorbei, geschäftig, mit neugierigen Augen, mal mit einem Wäschekorb. Peter zwinkert ihr zu und strahlt wie die aufgehende Sonne. "Wir sind das neue Ambulanzpärchen", verrät er mit gedämpfter Stimme. "Sie arbeitet in der Küche. Wir haben es langsam angehen lassen, anfangs nur Augenkontakt gehabt. Da waren Gefühle da, aber wir haben sie unterdrückt. Ich bin ja vorsichtig geworden, weil ich dachte, wenn ich noch einmal eine verlier', dann tät' ich es nicht mehr schaffen. Außerdem hätte ich nie geglaubt, dass ich noch einmal eine kennenlernen würde - so, wie ich bin."

Jetzt sei er aber der neue Peter. "Frisch verliebt, total glücklich, befreit, gesund." Fast kann er es selber noch nicht fassen. "Meinen Lebensmut und meinen Humor hab' ich wiedergefunden." Viele fragen ihn, wie er das geschafft hat. "Nur durch Bruder Martin. Ich bin ihm ewig dankbar für seine Hilfe. Aber da muss auch gewaltig was von einem selber kommen. Da oben", und er tippt sich an die Schläfe, "da oben muss es klick machen. Den Hebel da oben muss man komplett um 180 Grad umdrehen."

Ein Jahr lang hat Peter oben im Stockbett in der Straßenambulanz geschlafen. Jetzt ist das Bett abgezogen, denn er hat seine Siebensachen gepackt, hat sich von seinem eigenen Geld neue Klamotten gekauft und ist mit seiner neuen Freundin zusammengezogen. Sie suchen jetzt gemeinsam eine eigene Zweizimmerwohnung. Der neue Peter, so scheint es, ist auf einem guten Weg.