Trauer, Wut und Dankbarkeit in einer Stadt des Lebens

24.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

München (dk) Die bayerische Landeshauptstadt München steht für Unbeschwertheit, Lebensfreude und überbordendes Selbstbewusstsein. Seit vergangenem Freitag ist alles anders - ein Streifzug durch die Münchner Seele am Tag nach dem Amoklauf.

München, das ist das Oktoberfest, die jährliche Meisterfeier des FC Bayern und für das linke Gewissen - man leistet sich schließlich einen SPD-Oberbürgermeister - das Tollwood. Ein „Mia san Mia“-Gefühl und das Bewusstsein, dass es schon in Ordnung ist, dass einen der Rest der Republik für arrogant hält – nur weil man halt weiß, dass es an der Isar so viel schöner ist als in Köln, Hannover oder Berlin. Das hat auch nichts mit Geld oder politischer Einstellung zu tun. In der Jungen Union aktive BWL-Studenten fühlen sich diesem speziellen München-Gefühl mindestens so verpflichtet, wie tätowierte Dreadlock-Träger, die auf dem Eisbach surfen.

Seit vergangenem Freitag hängt eine dunkle Wolke über der Stadt. Ein Amoklauf mit neun Todesopfern mitten in München. Ausgerechnet in München. Ein Täter, hier geboren, der wahllos auf jungen Menschen schießt. Der neun Leben beendet. Neun Menschen, die nun nicht mehr studieren, heiraten oder verreisen werden. Die keine Familien gründen werden. Die keine Zukunft mehr haben. Neun Menschen, deren Angehörige in Höllenqualen gestürzt wurden ob der Willkür und Sinnlosigkeit. Pläne, Hoffnungen, Träume – beendet mit dem Zucken eines Abzugsfingers.

Am Tag danach ist der Amoklauf das Thema in der Stadt. Überall ist Trauer. Menschen legen am Olympiaeinkaufszentrum Blumen nieder. Für getötete Menschen, die sie gar nicht kannten, denen sie sich aber verbunden fühlen, weil sie in der selben Stadt lebten. Und vermutlich auch, weil sie wissen: Es hätte auch sie treffen können. Der Platz vor dem Konsumtempel wirkt wie eine Blase, in der die Geräusche gedämpfter sind und alles etwas langsamer läuft. Für Sonntagabend wird per Facebook eine Mahnwache organisiert.

In die Trauer mischen sich Wut und Fassungslosigkeit. Warum hat dieser Depp das gemacht? Was bildete er sich ein, sich zum Richter über Leben und Tod aufzuschwingen? Dass er sich aus der Affäre zog, in dem er sich selbst erschoss, macht die Sache nicht einfacher. Die Wut hat keine Projektionsfläche.

Hier und da ist Erleichterung zu spüren: Zum Glück war es nicht der Islamische Staat. Zum Glück hat der islamistische Terror seinen Weg noch nicht nach München gefunden. Viele wissen: Die Betonung liegt auf „noch“. Eine globalisierte Welt bedeutet nicht nur globalisierte Chancen, sondern auch globalisierte Probleme. In vielen Teilen der Welt sind Anschläge mit dutzenden Toten an der Tagesordnung. Nur einen Tag nach München sterben bei einem Anschlag in Kabul mindestens 80 Menschen. So manchem schwant: Die Zeit, in der man auf der Insel der Seeligen lebte, ist vorbei.

Zweifel ist auch da. Vor allem bei jenen, denen es nützt, Ängste zu schüren, und bei jenen, die sich gerne ängstigen lassen. Einfache Lösungen für komplexe Probleme – das Allheilmittel aller Populisten. Vielleicht war es doch der IS? Vielleicht lügen Polizei, Staatsanwaltschaft, Landeskriminalamt und der Ministerpräsident? Man war sich doch von Anfang an sicher – obwohl man natürlich fernab des Geschehens war und keine Informationen aus erster Hand hatte - gewesen, dass es Islamisten sein müssen. Ob man sich da geirrt haben könnte? Nein, eher lügen alle Verantwortlichen. Nun gut. Und wer glaubt, dass wir in Wahrheit Angestellte einer „BRD GmbH“ sind, der kann auch das glauben. All jenen, die nach wie vor zweifeln, sei das Handyvideo empfohlen, auf dem zu hören ist, wie sich der Täter ein Wortgefecht mit einem Anwohner liefert. Spätestens hier ist klar: Der junge Mann war psychisch krank. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und tragisch genug.

Bleibt noch Scham. Nicht wenige Münchner haben am Freitag über Twitter und WhatsApp Informationen geteilt und weiterverbreitet, die nicht zielführend waren. So kam es, das schon um 18 Uhr von 15 Toten zu lesen war, dass es Schießereien auch am Stachus, in der Fußgängerzone, am Marienplatz, auf dem Tollwood und am Odeonsplatz gegeben hatte und dass der Täter eine „schmutzige Bombe“ dabei hatte. Panik hatte um sich gegriffen. Nicht wenige Bürger trugen Blessuren davon. Und so kam es auch, dass die Einsatzkräfte noch nach drei Männern mit Gewehren suchen mussten, als der mit einer Pistole ausgerüstete Einzeltäter sich schon längst gerichtet hatte. Soziale Medien und Messenger können Großes leisten, wenn es darum geht, vor Gefahren zu warnen. Doch einige wenige "Spaßvögel" hatten Falschmeldungen in die Welt gesetzt, die viele andere dann ungeprüft weitergeleitet hatten. Man kann froh sein, dass bei den Paniken nicht noch mehr passiert ist.
 
Die Münchner und die bayerische Polizei – das war in der Vergangenheit nicht immer eine Liebesbeziehung. Nun ist große Dankbarkeit zu spüren. Die Gesetzeshüter griffen sofort zum großen Besteck: SEK, Hubschrauber mit Wärmebildkameras, Scharfschützen, GSG9. Der Täter hatte noch 300 Schuss Munition dabei. Er wollte noch sehr viel mehr Menschen töten. Dass es nicht so kam, ist ein Verdienst der Polizei. Passanten klopfen Beamten auf die Schultern und schütteln Hände. Hier und da spendieren Ladeninhaber ein paar Kugeln Eis oder Leberkäsesemmeln. Die Stadt und ihre Polizisten sind ein Stück weiter zusammengerückt.

Trauer, Wut, Erleichterung, Dankbarkeit, Scham. All diese Gefühle sind omnipräsent in einer Stadt, die normalerweise sich und das Leben feiert. In der an diesem Wochenende alles etwas langsamer, etwas trister ist. Es wird eine Weile dauern, bis wieder alles normal ist. Vergessen wird die Stadt diesen 22. Juli und seine Opfer nie. Diese Stadt und ihre Menschen werden wieder leben. Aber eine Narbe bleibt.

Von Tom Webel