Bayern 2025
Eine App wacht über Leben und Tod

19.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:31 Uhr

Ingolstadt (dk) Die Digitalisierung revolutioniert die Medizin in einem Maße, das wir uns heute kaum vorstellen können. Aber der Fortschritt zeigt sich auch in kleinen, nicht so spektakulären Entwicklungen, wie eine besondere App zeigt. Sie wurde in den USA entwickelt und weltweit erstmals an der Klinik der Universität München getestet.

Fast überall in Deutschlands Krankenhäusern gilt ein striktes Handyverbot. Nicht so am Klinikum der Universität München, wo jeder ungehindert mobil telefonieren darf. Dafür gibt es sogar einen triftigen, medizinischen Grund: "Wir haben als weltweit erstes Krankenhaus eine mobile Überwachung der Patienten mit Smartphones realisiert", sagt Kurt Kruber, 53, Leiter der Medizintechnik und IT. Möglich macht das eine ganz besondere App.
 
Wie hoch ist der Blutdruck des Herzinfarktpatienten auf der Intensivstation? Stimmt die Sauerstoffsättigung der Patientin im Bett daneben noch? Um das zu kontrollieren, muss an der Uniklinik niemand ans Krankenbett laufen und dort die Überwachungsgeräte kontrollieren. Nein, dazu genügt ein Blick aufs Smartphone. Der Medizingerätehersteller Philips hat eine App entwickelt, die auf einer neurologischen und kardiologischen Intensivstation der Uniklinik als Pilotprojekt 2015 erstmals auf Herz und Nieren erprobt wurde. Das geschah zunächst aus einer Notlage heraus: In der Klinik entstand ein Neubau für die Kardiologie und Neurologie, und eine klassische Überwachung der Intensivpatienten wäre technisch und finanziell aufwendig gewesen. Da kam die neue App gerade recht.

Allerdings waren vor Start des Pilotprojekts und Aufheben des Handyverbots weitreichende Messreihen erforderlich, um zu prüfen, ob die Benutzung von Smartphones keine Risiken für die Patienten birgt. Denn in der Uniklinik sind rund 37 000 medizinische Geräte im Einsatz, die unter Umständen in ihrer Funktion gestört werden könnten. "Wir haben beispielsweise alte Herzschrittmacher aus dem Verkehr gezogen", erklärt Kruber. EGK, EEG oder Geräte zur Narkoseüberwachung werden durch Mobiltelefone beeinflusst. "Also haben wir die Bereiche, wo diese Geräte arbeiten, gekennzeichnet."

Diese Risikoanalyse erforderte großen Aufwand. Unzählige Fragen mussten nachfolgend für das Pilotprojekt geklärt werden - auch ganz simple: Wie ist sichergestellt, dass immer genug Handys vorhanden und auch geladen sind? "Es wurde alles betrachtet, was allen Beteiligten nur einfiel", so Kruber. So gibt es ein Ladekonzept für die Handys der Früh-, Spät- oder Nachtschichten. Auch Ersatzhandys liegen immer bereit, falls ein Gerät einmal ausfällt.

Nach Abschluss der Testphase im Frühjahr 2016 könnte das Fazit des IT-Chefs nicht besser sein: "Wir hören nur Positives von den Ärzten und Pflegekräften. Für sie ist es eine unwahrscheinliche Erleichterung, denn sie müssen nicht mehr bei jedem Alarmpiepsen auf Verdacht sofort loslaufen, um dann festzustellen, dass nur der Fingersensor abgerutscht ist. Jetzt laufen sie gezielt los, denn sie sehen auf dem Display den aktuellen Verlauf der Kurven. So kann man relativ schnell erkennen, wie dramatisch die Situation gerade ist. Das gibt einem ein ganz anderes Sicherheitsgefühl." Die App kennt drei Alarmstufen. Kruber erklärt: "Bei blauem Alarm handelt es sich um ein technisches Problem, und es betrifft nur die Pflegekräfte. Werden Grenzwerte eines Patienten über- oder unterschritten, so wird der gelbe Alarm ausgelöst: Dann kommt eine Pflegekraft und nach Notwendigkeit ein Arzt. Roter Alarm weist auf eine lebensbedrohliche Lage des Patienten hin."

Angesichts des chronischen Personalmangels an Krankenhäusern und des wachsenden Kostendrucks im Gesundheitswesen birgt die App, die jetzt als Medizinprodukt in Serie gegangen ist, viel Potenzial. Deshalb weitet die Uniklinik das System sukzessive aus - nicht nur in Intensivstationen. Diese Überwachung wird auch auf der neuen Kinder-Palliativstation eingesetzt: "Nicht wegen Geldmangels oder aus technischen Gründen", so Kruber. "Der stille Alarm ist dort das Entscheidende. Wir möchten vermeiden, dass es klingelt. Das hat diesen Charakter von Intensivstation, und den wollen wir den Kindern ersparen."

Eine Herzklappe aus dem 3 D-Drucker oder ein Pflegeroboter: Noch klingt das wie aus einem Science-Fiction-Film. Aber die Zukunft hat längst begonnen. Nach Ansicht von Kurt Kruber wird die Digitalisierung in der Medizin rasant voranschreiten. Moderne Universitätsklinikum als Zentren der Innovation sind nicht zuletzt auch wegen der Forschung auf IT-Lösungen angewiesen, um den schnellen Austausch von Wissen zu erleichtern. "Ich glaube ganz fest daran, dass es immer mehr IT-unterstützte Systeme geben wird - und zwar in großen Massen. Weil der Pflegenotstand herrscht und weil wir wahnsinnig viele Daten erfassen. Wir werden vollelektronisch sein, und ich bin überzeugt: Dem Gesundheitswesen wird die Digitalisierung guttun."

Vor allem den Patienten: Die Digitalisierung soll künftig sicherstellen, dass noch mehr Doppeluntersuchungen vermieden und kostbare Zeit gespart wird. "Wenn die Daten vom Rettungswagen oder Hubschrauber schon vor dem Patienten ankommen", erklärt Kruber, "dann kann die Notaufnahme viel schneller reagieren."

Doch wie steht es mit den Risiken und Nebenwirkungen? "Ich sehe die Gefahren eher außerhalb des Gesundheitssystems, etwa bei den Apps und Fitness-Armbändern", meint IT-Chef Kruber. "Apple oder Google haben die Thematik längst erkannt. Als Nutzer, der sich überwachen lässt, muss ich mich jedoch fragen, was mit diesen Daten passiert? Grundsätzlich birgt jede neue Technologie Gefahren, und der Aufwand zum Schutz gegen Hackerangriffe oder Manipulationen wird immer größer."