München
Die Horror-Nacht von München

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

München (DK) Vor einem Jahr tötete der Schüler David S. bei seinem Amoklauf in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums neun Menschen. Falschmeldungen in den sozialen Medien versetzten die ganze Stadt in Panik – und ein schimpfender Baggerfahrer wurde zum Medienstar.

Die Bilder der pixeligen Handy-Videos sind noch immer im Netz abrufbar. Und sie lassen einen auch ein Jahr nach dem Amoklauf von München noch erschaudern. In einer der bekannten Szenen sieht man, wie ein junger Mann mit einer Pistole in der Hand aus dem McDonald’s nahe des Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) läuft. Kurz darauf beginnt er zu schießen, Passanten schreien, rennen um ihr Leben.

Später an diesem Abend wird ein weiteres, kaum weniger verstörendes Video auftauchen. Darin sieht man den Amokläufer auf einem Parkdeck hin und herlaufen, er streitet lautstark mit einem Anwohner. 
Immer und immer wieder werden diese kurzen Filmsequenzen an diesem Abend bei den Nachrichtensendern über den Bildschirm flimmern. Aus dem warmen Sommerabend am Freitag, den 22. Juli 2016, wird eine Nacht werden, die nicht nur die Münchner für lange Zeit nicht vergessen werden.

Der Täter, der eine Millionenstadt in Panik versetzt, heißt David S. Wie später im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft München I und des Landeskriminalamts stehen wird, handelt es sich um einen frustrierten Schüler, der über Jahre gemobbt wurde. Der 18-Jährige war demnach psychisch gestört, und deshalb auch in psychiatrischer Behandlung. Sein Motiv für den Amoklauf: Rache. Abgesehen hat er es auf Menschen, die seiner Ansicht nach denjenigen ähneln, die ihn mobben. Dabei handelt es sich vor allem um Jugendliche „südosteuropäischer Bevölkerungsgruppen“. 
 

Falschmeldungen und Panik

Das perfide: als in der Stadt Panik ausbricht – und in Wellen immer wieder ausbrechen wird –, ist der Amoklauf eigentlich schon vorbei. An Dramatik gewinnt der Abend vor allem durch Falschmeldungen. In den Sozialen Netzwerken tauchen immer wieder Meldungen von Schüssen an verschiedensten Stellen in München auf. Unter anderem heißt es, am Stachus sei geschossen worden. Über die Sozialen Medien werden die Falschmeldungen tausendfach geteilt und weitergeleitet. Eine Folge davon: Gegen viertel nach sieben bricht im Hofbräuhaus Panik aus. 

Auch die Polizei twittert. Um 18.35 Uhr, schreibt sie: „Im Moment haben wir einen großen Polizeieinsatz am OEZ. Meiden Sie den Bereich um das Einkaufszentrum.“
 

Nahverkehr wird eingestellt

Gegen 20 Uhr wird auf Anweisung der Polizei der Nahverkehr eingestellt: Trambahnen, U-Bahnen und Busse fahren nicht mehr. Etwa zehn Minuten später wird der Hauptbahnhof evakuiert. Das Festival Tollwood auf dem Olympiagelände läuft zunächst weiter. Erst am weit nach 21 Uhr wird das Gelände schließlich doch noch evakuiert.

Dutzende Male wird es an diesem Abend noch falschen Alarm geben. Bis Mitternacht geht selbst die Polizei von mehreren Angreifern aus. Auch die Spezialeinheit GSG 9 wird angefordert. Dass hier ein Einzeltäter am Werk ist, glaubt anfangs noch niemand. Vielmehr liegt die Vermutung eines islamistischen Terroranschlags nahe. Nur wenige Tage zuvor war in Nizza ein Attentäter mit einem Lkw in eine Menschenmenge gerast. Mindestens 86 Menschen kamen dabei ums Leben, etwa 400 wurden verletzt.
 

Waffe aus dem Darknet

Wohl rund ein Jahr hat David S. seinen Amoklauf geplant. Wie die Ermittlungen zeigen werden, ist er fasziniert vom Massenmord des Anders Breivik 2011 in Norwegen. Das zeigt sich deutlich am Datum des Amoklaufs: Der Breivik-Anschlag jährt sich an diesem Tag zum fünften Mal.

ine große Rolle bei der Tat spielt das Internet – schon bei der Planung: Seine Waffe kauft der Schüler im sogenannten Darknet. Dieser – nur schwer zugängliche – Bereich des Internets ist bis zum Amoklauf von München nur wenigen Leuten ein Begriff. Offenbar hatte der Amokläufer lange gespart, um die rund 4000 Euro für die Pistole zusammenzubekommen – eine Glock 17.

Kurz vor 16 Uhr nimmt der Albtraum an jenem Freitag seinen Lauf: David S. fährt mit dem Fahrrad zum McDonald’s gegenüber des OEZ. Dort trifft er einen 16-jährigen Freund. Kurz nach 17 Uhr verabschieden sich die beiden wieder – am nahe gelegenen U-Bahnabgang vor dem Saturn-Elektronikmarkt. David S. kehrt jedoch zum Schnellrestaurant zurück. Auf Facebook hatte der Schüler zuvor versucht, mit dem gefälschten Profil eines Mädchens, per Einladungen potenzielle Opfer in den McDonalds zu locken. Doch seinem Aufruf folgt offenbar niemand. Von seinem Plan Menschen zu töten, hält das David S. aber nicht ab. Um 17.50 Uhr geht er auf die Toilette und holt aus seinem Rucksack die Pistole.

Nur eine Minute später beginnt der Blutrausch des Schülers. Er steuert auf eine Sitznische im 1. Stock des Schnellrestaurants zu und beginnt auf eine Gruppe Jugendlicher zu schießen. Dabei tötet er zwei 15-Jährige, einen 14-Jährigen und zwei 14-jährige Mädchen. Ein 13-jähriges Kind wird durch Schüsse lebensgefährlich verletzt, schafft es aber, über eine Nottreppe zu fliehen. 

David S. ist aber noch nicht am Ende: Um 17.52 Uhr verlässt er den McDonald’s zum Haupteingang – es entsteht das anfangs beschriebene Video. Als er auf der Straße feuert, trifft er einen 17-Jährigen, einen 19-Jährigen und eine 45-Jährige tödlich. Drei weitere Menschen werden durch die Kugeln teils schwer verletzt. 
David S. überquert die Hanauer Straße und betritt über den Haupteingang das Einkaufszentrum. Dort tötet er nahe der Rolltreppen sein letztes Opfer: einen 20-Jährigen. Danach verlässt er das OEZ über eine Fußgängerbrücke. Er schießt weiter um sich. Verletzt wird niemand mehr. 

Um 17.59 Uhr taucht der Amokläufer auf der obersten Etage des Parkdecks auf. Dort liefert er sich ein Wortgefecht mit einem Anwohner auf dem Balkon, einem Baggerfahrer. Es entspinnt sich ein völlig wirres Streitgespräch. Der Mann auf dem Balkon hält David S. offenbar für einen islamistischen Attentäter und beschimpft ihn wüst. „Du bist doch nicht ganz dicht im Schädel“, ist noch eine der milderen Ausdrücke. In den folgenden Tagen wird der Baggerfahrer zum gefragten Interviewpartner für TV-Sender werden.

David S. läuft während des Wortgefechts ständig auf und ab. Das meiste was er sagt, ist kaum zu verstehen. Es scheint, als wäre er wütend über die Unterstellungen des Baggerfahrers – denn er ist kein Islamist. Der Amokläufer hat es ja vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund abgesehen. Er versucht offenbar sich zu rechtfertigen. „Ich bin Deutscher“, ruft er. „... und jetzt muss ich eine Waffe kaufen und euch alle abknallen.“, „... ich habe nix getan ...“ Wieder Schüsse, Sirenen.

Es ist 18.04 Uhr als Polizisten den Amokläufer von einem Außenbalkon aus erkennen. Ein Beamter schießt mit einer Maschinenpistole auf ihn, verfehlt ihn aber. David S. flüchtet über eine Nottreppe vom Parkdeck. Was danach passiert, ist unklar. Vermutlich versteckt sich der Amokläufer die meiste Zeit in einer Wohnanlage in der Henckystraße, nicht weit entfernt vom Tatort. Auch wann genau er sein Versteck wieder verlässt ist unklar. 
Gegen 20.30 Uhr hat das Drama ein Ende: David S. erschießt sich vor den Augen von Polizisten.