Neuburg
Flucht kurz vor dem Mauerfall

Mit 400 DDR-Übersiedlern kam 1989 die Familie Piechnik nach Neuburg

01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Trabants und Wartburgs vor der Neuburger Tillykaserne. 400 Übersiedler aus der Deutschen Demokratischen Republik kamen noch vor dem Mauerfall in Neuburg an. Ein Teil ist geblieben, die anderen sind später zurückgekehrt - Fotos: r

Neuburg (r) Als Ungarn im Herbst 1989 den Eisernen Vorhang öffnete, nutzten tausende DDR-Bürger die Gelegenheit zur Flucht in den Westen. 400 Familien trafen in der Nacht zum 5. November mit ihren Wartburgs und Trabants in Neuburg ein. Die Familie Piechnik ist für immer geblieben.

Mit ihren beiden Töchtern fanden sie zunächst Unterschlupf in der Tillykaserne. Die Bundeswehr hatte ihre Sporthallen und Quartiere für die Übersiedler geöffnet. Eine beeindruckende Hilfswelle erfasste die Stadt.

Dann fiel die Mauer in der Nacht zum 9. November. „Wenn wir das gewusst hätten, wären wir natürlich geblieben“, das steht für Lutz Piechnik fest. Die Familie fand offene Herzen in Bayern, der Markt Rennertshofen ist ihre zweite Heimat geworden. Sie fühlen sich dort wohl. Das liegt auch an den Zwillingsenkeln von Tochter Denise, um die sich Lutz (57) und Carmen (52) Piechnik jetzt bevorzugt kümmern.

Die ersten Jahre waren schwer, die Familie dachte mehrmals an die Rückkehr nach Sachsen. Letztlich fanden sie sich gut zurecht, Lutz Piechnik arbeitet seit 25 Jahren bei Rockwool und trainierte Fußball-Jugendmannschaften in Rennertshofen. Die Eltern im Erzgebirge besuchen sie regelmäßig.

Der Vater führte einst einen volkseigenen Konsumladen, seinen sehnlichsten Wunsch, ein eigenes Geschäft einzurichten, hatten die SED-Funktionäre immer abgelehnt. Der SED-Staat mischte sich überall ein, „und du konntest nicht einmal die einfachsten Dinge selber bestimmen“.

Nach der Grenzöffnung in Ungarn „überlegten auch wir täglich hin und her, ob wir fortmachen sollten“, erinnert sich Carmen Piechnik. Honecker war abgesetzt, und als sich Nachfolger Egon Krenz mit einer Fernsehansprache an „die lieben Genossinnen und Genossen“ wandte, da fiel bei Familie Piechnik die Entscheidung: „Jetzt wird’s noch schlimmer.“

Am nächsten Morgen rief der Betriebsleiter des „Robotron“- Schreibmaschinenwerks Ölsnitz in Vaters Konsum-Laden an und fragte, warum der Schlosser Lutz Piechnik nicht zur Arbeit erschienen ist. Doch der steuerte seinen Trabi zu diesem Zeitpunkt gerade durch die damalige Tschechoslowakei, neben ihm seine Frau, auf dem Rücksitz die beiden Töchter, die wichtigsten Siebensachen und eine Heidenangst im Gepäck.

Das Bankkonto war weitgehend abgeräumt, für 1400 DDR-Mark kleideten sich die Flüchtlinge in Plauen noch einmal komplett ein. In Schirnding gelangten sie problemlos über die tschechisch-bayerische Grenze. Dort steckte ihnen ein freundlicher bayerischer Grenzbeamter eine Karte zu. Darauf stand: Tillykaserne, Neuburg an der Donau.