75 Prozent gegen soziale Gerechtigkeit

03.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:22 Uhr

Zum Artikel "Rückkehr zum alten System" über den Bürgerentscheid in Wettstetten (DK vom 27. März):

Nachdem ich lange in einer Großstadt wohne, schätze ich die Vorzüge einer kleinen Gemeinde immer mehr. Doch kann man in diesem Fall noch von einer "Gemeinde" sprechen? Denn das Wort Gemeinde bedeutet Gemeinschaft, und das heißt, dass man gemeinsam etwas auf die Beine stellt, zusammenhilft und sich gegenseitig unterstützt und natürlich auch miteinander feiert. Zum Beispiel ist es in einer Hausgemeinschaft doch selbstverständlich, dass man eine Waschmaschine, die man gemeinsam benutzt, auch gemeinsam bezahlt und gemeinsam für Reparaturen aufkommt. Würde sie jemand mitbenutzen, sich jedoch nicht an den Kosten beteiligen, würde jeder ihn als Schmarotzer bezeichnen, und das mit Recht! Aber bei Straßen, die jeder benutzt, ist das ganz anders!

Da findet man es in Ordnung, wenn nur wenige Anlieger die Kosten für eine Straße tragen müssen, die als Hauptzufahrtsstraße dieser Siedlung besonders breit und dadurch extrem teuer ist.

Um aber trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können, glaubt man dann irgendwelchen Leuten, die mit Pseudoargumenten und erfundenen Wahrheiten dies auch noch als gerecht und sozial darstellen. Und wenn dann genau diese Leute äußern, dass die Idee der wiederkehrenden Zahlung durchaus zu überdenken wäre, jedoch erst bei weiteren Straßenerneuerungen, sprich, wenn ihre Straße repariert wird, gibt es eigentlich nichts mehr hinzuzufügen! Wie sooft, soziale Gerechtigkeit ja, aber nur, wenn sie mich nichts kostet!

Vielleicht hätte man auf das neueste Smartphone oder ein paar Tage Wellnessurlaub verzichten müssen, wenn man sich an den Sanierungskosten beteiligt hätte. Aber steht das im Verhältnis dazu, dass der eine oder andere durch diesen Bürgerentscheid eventuell in ernsthafte finanzielle Nöte kommt?

Als Grundstückseigentümer in einer nicht betroffenen Straße könnte ich mich eigentlich auch freuen. Doch ich bin fassungslos darüber, welch Armutszeugnis meine Heimatgemeinde bei dieser Abstimmung abgelegt hat. 75 Prozent stimmen gegen soziale Gerechtigkeit. 75 Prozent, die sich sonst über den Werteverfall in der Gesellschaft beklagen. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein gutes Stück zu eben diesem beigetragen!

Jetzt noch ein kleiner Aprilscherz: Wider dem Versprechen des Bürgermeisters, bis 2024 keine weiteren Straßensanierungen durchzuführen, wurde in der letzten öffentlichen Gemeinderatssitzung bekannt, dass eine Straße in einem anderen Viertel saniert werden muss. Diese Kosten übernimmt allerdings die Gemeinde, nicht die Anwohner. Wird dadurch das Ergebnis des Bürgerentscheids nicht ad absurdum geführt?

Als Rechtsanwalt sollte der Bürgermeister eigentlich mehr Sinn für Gerechtigkeit haben!

Evelyn Unholzer, München