"Wehrhafte Demokratie"

19.11.2008 | Stand 03.12.2020, 5:25 Uhr

Kein Blatt vor den Mund nahm die Autorin Renate Hartwig in Sachen Gesundheitspolitik. Bei einer Veranstaltung der Therapeuten-Interessen-Gemeinschaft Region 10 warnte sie vor einer Amerikanisierung des Gesundheitswesens. - Foto: Stückle

Ingolstadt/Großmehring (DK) Mit "wehrhafter Demokratie" will Renate Hartwig gegen die schleichende Amerikanisierung des Gesundheitswesens vorgehen. Bei einer Veranstaltung der Therapeuten-Interessen-Gemeinschaft der Region (TIG) geißelte sie die zunehmende Industrialisierung der Medizin.

Es waren in erster Linie Patienten, die am Dienstagabend zum Vortrag der streitbaren Buchautorin in die Großmehringer Nibelungenhalle gekommen sind. Als die Moderatorin Sabine Gutzeit anfangs fragte, wie gut das Publikum über die in sechs Wochen in Kraft tretende Gesundheitsreform informiert sei, gab der mit Abstand größte Teil der rund 150 Anwesenden an, über die Reform und ihre Auswirkungen für die Patienten "keine Ahnung" zu haben.

Renate Hartwig wollte auch die Antwort darauf wissen, warum das so sei: Sie sprach von einer "gezielten Desinformation" der Gesundheitslobby. Damit nicht aufgedeckt werde, "wie klammheimlich unser Sozialsystem gekippt wird". Gleich zu Beginn ihres Vortrages brachte Hartwig die Zuhörer auf ihre Seite: "Am allermeisten nervt mich, dass die Gesundheitsreform so kompliziert ist, dass wir Bürger sie nicht verstehen." Dass sie obendrein ihrer Meinung nach verfassungswidrig sei, weil die Abgeordneten zu wenig Zeit gehabt hätten, die Vorlage zu lesen, blieb nicht unerwähnt.

Die Publizistin aus dem schwäbischen Nersingen prangert in ihrem Buch "Der verkaufte Patient" die schleichende Kapitalisierung im Gesundheitswesen an – auf Kosten der Patienten. Denn die müssten zwar mehr Kassenbeiträge zahlen, bekämen aber viele Leistungen nicht mehr bezahlt: "Es geht um chronisch kranke Menschen. Menschen, die inkontinent sind und ihre Hilfs- und Heilmittel nicht mehr so kriegen wie früher, und um Menschen, die Krebs haben."

Acht Experten am Podium aus den Bereichen Gesundheit und Politik hörten gebannt zu, als die Autorin in ihrem über einstündigen Vortrag mit den "Machenschaften" der Gesundheitspolitiker, allen voran Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, abrechnete: der stellvertretende Vorsitzende des bayerischen Hausärzteverbandes, Dr. Wolfgang Krombholz, MdL Markus Reichhart (FW), der Orthopäde Dr. Michael Grüner, der Arzt und SPD-Stadtrat Dr. Anton Böhm, der FDP-Kreisvorsitzende Philipp Philippson und Manfred Lindner von den Linken sowie Nadine Franke, dritte Vorsitzende der TIG, und der Bezirksvorsitzende der DAK, Wolfgang Birkenbach. Die CSU hatte auch eine Einladung von der TIG bekommen – gekommen war niemand. Von den angeschriebenen Krankenkassen wagte sich lediglich Birkenbach aufs Podium.

Das amerikanische Gesundheitssystem sei "das schlechteste, das es gibt", sagte Hartwig. Dennoch gelte es für Deutschland offenbar als gutes Beispiel. Warum sonst hole sich die Gesundheitsministerin gerade dort Anregungen? Mit dem Gesundheitsfonds, der "gegen den Willen von Ärzten, Patienten und Kassen" zum Jahresbeginn eingeführt wird, würden "die Kassen wundgeschossen". Dass der Einheitsbeitrag nicht reichen könne, bestätigte auch DAK-Chef Birkenbach. Hartwig ist überzeugt, dass es mit dem amerikanischen Gesundheitsriesen Kaiser Permanente, einem der größten Anbieter im Bereich der integrierten Versorgung, bereits Vorverträge gebe. Auf entsprechende Anfragen habe sie bislang keine Antwort erhalten, so Hartwig.

Auch die Kassen bekamen von der Autorin ihr Fett weg. Etwa die Barmer, die Windeln für Inkontinenz öffentlich ausschreiben lasse. Die Lieferung käme einmal im Monat, die Qualität sei schlecht. Hartwigs Rat: "Hängt die vollen Windeln jeden Morgen an die Tür der Kasse."

Das Thema Medizinische Versorgungszentren lag den anwesenden Medizinern und Therapeuten freilich besonders am Herzen. Hartwig warnte vor MVZ, deren Inhaber Kapitalgesellschaften seien. "Die wollen nur Gewinn machen." Aber auch Klinik-geführte MVZ mit angestellten Ärzten, wie derzeit eines am Ingolstädter Klinikum entstehe, seien problematisch. Die Referentin mahnte in diesem Zusammenhang zu mehr Solidarität unter den Ärzten. "Wenn keiner von ihnen das Angebot annehmen würde, gäbe es auch keine MVZ."