"Die letzte Enklave der Subkultur"

23.08.2007 | Stand 03.12.2020, 6:32 Uhr

Ingolstadt (DK) Alte Industriehallen, eingeworfene Fensterscheiben, Graffiti: Der Gebäudekomplex zwischen FH und Lechnermuseum am Rande der Altstadt ist in Ingolstadt ein Fremdkörper. Viele Künstler haben in der ehemaligen Audi-Produktionsstätte ihre zweite Heimat gefunden – Zukunft ungewiss.

Der Kontrast könnte größer nicht sein: Vorbei am aufgeräumten Eingangsbereich des Seniorenstifts Elisa für gehobene Ansprüche thront an der Esplanade in übergroßen schwarzen Lettern das Postulat "Graffiti war gestern!". Hinter dieser neongelb umrahmten Außenwand-Botschaft verbergen sich riesige Hallen und kleine Räume, die als Ateliers, Band- und Geschäftsräume und als Warenlager genutzt werden. Es gibt ein Tonstudio, einen mazedonischen Kulturverein, eine Disco und im Keller die Galerie des Künstlerkollektivs xhoch4 – die Urheber des Fassaden-Graffitos. Für René Arbeithuber, einen der Künstler, liegt hier "die letzte Enklave der Subkultur".

Dass der südliche Überrest des ehemaligen Audi-Geländes auf dem früher als "Bananengrundstück" bezeichneten Areal heute die wohl höchste Künstlerdichte der Region zu bieten hat, ist keineswegs das Ergebnis eines planvollen Nutzungskonzepts. Wenn sich ein geeigneter Investor beim Eigentümer, der Ingolstädter JKV Grundstücksverwertungs GmbH, meldet, könnte das bunte Treiben sehr bald ein abruptes Ende nehmen. Es gibt laut Verwalter Roland Hörner zwar bisher keine konkreten Pläne, er lässt aber keinen Zweifel daran, dass "mittelfristig was Neues" entstehen wird. Auch die Stadt hätte gegen einen Abriss und einen schicken Neubau wohl nichts einzuwenden.

Geschrei und Gesang

Noch geht aber in der Esplanade mit den Hausnummern 5, 7 und/oder 9 – so genau kennt hier niemand seine Adresse – der Punk ab: Bassdrums hämmern, Gitarrenverstärker jaulen, Gesang und Geschrei liegen – zumindest bei einigen Metal-Bands im dritten Stock – nah beieinander. Für das soziale Miteinander der Mieter sind die beachtlichen Dezibel-Werte nicht unbedingt förderlich.

"Wir wollen umziehen", sagt Boris Schmelter vom Design-Büro xhoch4, das sich direkt unter dem guten Dutzend Proberäumen im zweiten Stock befindet. Der verlässliche nachmittägliche Lärm von oben stört die Gestalter auf die Dauer dann doch zu sehr beim Entwerfen von Plakaten, beim Basteln von Webauftritten für Ingolstädter Museen oder beim Gestalten des Theater-Spielzeithefts. Von ihrem lichtdurchfluteten Atelier im Mittelgebäude und der Galerie im Keller – einmal im Jahr Schauplatz für die hauseigene Kunstausstellung samt Party – wollen sie sich aber auf keinen Fall trennen.

Ganz ungetrübt ist das künstlerische Schaffen im ehemaligen Getreidelager also nicht immer. Vor allem die fehlenden Sanitäranlagen für die Bandräume gelten als suboptimal. Mittlerweile nutzen die Musiker ganz offiziell das WC im "Café Flamme", das sich gleich um die Ecke im ehemaligen Audi-Pförtnerhäuschen niedergelassen hat. Ein gewichtigerer Mangel ist die fehlende Heizung – im Winter wird dadurch das Musiziervergnügen doch erheblich getrübt.

Andererseits: Wo gibt es in Zentrumsnähe trockene Proberäume, in denen Tag und Nacht Lärm gemacht werden darf? Nirgends. Auch die Band Slut weiß ihren Raum im dritten Stock der Esplanade 5 mittlerweile zu schätzen – René Arbeithuber, der bei Slut für elektronische Klänge zuständig ist, schmunzelt, wenn er es ausspricht: "Ein Proberaum mit Schlossblick!"

Die Künstler lieben den Gebäudekomplex aber eigentlich nicht wegen seiner gotischen Umgebung, im Gegenteil: Das "New-York-Flair", wie Daniel Lange von xhoch4 das "spezielle Gefühl" in der Esplanade 5 beschreibt, verdankt sich dem industriellen Charme. "Hier ist nicht alles Hochglanz und Pling-Pling, das mögen wir", sagt der Maler und Designer. "Wenn sie das hier abreißen, wo sollen die Leute dann hingehen?"

Angesagter Szenetreff

Diese Frage stellen sich nicht nur die Jungs von xhoch4 und die zahlreichen Maler mit ihren privaten Ateliers. Auch die Nachtschwärmer würden einen angesagten Treffpunkt vermissen: Im Januar vergangenen Jahres hat sich der Reifenhandel an der Esplanade in die Disco-Lounge Pneumatique verwandelt. Auch dieser Szenetreff lebt vom unfertigen Charme der Esplanade – ein solcher Club könnte ebenso gut auf der Münchner Partymeile Kunstpark Ost oder auf einem Berliner Künstlerareal stehen.

In erster Linie wird hier gearbeitet – im Namen der Kunst, versteht sich. So hat Holger Krzywon im vergangenen Jahr im Erdgeschoss schräg gegenüber des Lechnermuseums sein Tonstudio Restgeräusch aufgemacht. Hier mischt der gebürtige Münchner auf einem guten alten analogen 80er-Jahre-Mischpult gerade den Lokalmatadoren Blueslick ab. "Es lebe der Alkohol – alles andere ist Shit" ertönt aus den Monitorboxen, die Gesangsspur für die neue CD ist im Kasten. Ein halbes Jahr lang hat Krzywon die Wände gedämmt, jetzt ist das Studio für ihn eine zweite Heimat. Dass auch sein Mietrecht hier bald auslaufen könnte, sieht er dennoch gelassen. "Das Gebäude wird hier wohl noch ’ne Weile stehn", glaubt der Tontechniker.

Gewissheit gibt es dafür aber keine. Denn obwohl der Eigentümer Jürgen Kellerhals laut Hörner ein Freund moderner Kunst ist, und einige Esplanaden-Künstler sogar sponsert, würde er bei einem geeigneten Konzept nicht zögern, den Gebäudekomplex abzureißen. Wenn es nach den Künstlern geht, sollte sich die Stadt für eine kulturelle Nutzung der Räume stark machen. Slut-Sänger Chris Neuburger wünscht sich, dass sich die Kunst an der Esplanade "dauerhaft etabliert". Für den Fall, dass tatsächlich einmal die Bagger dort anrücken, hat Neuburger einen Plan: "Das könnte das erste besetzte Haus in Ingolstadt werden", sagt er, kann sich ein ungläubiges Lächeln über seinen eigenen Gedanken aber dann doch nicht ganz verkneifen.