Wettstetten
Die Straße "lesen"

Einige Wettstettener probieren erstmals den ostfriesischen Nationalsport Boßeln aus

29.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr

Mit Schwung Richtung Rackertshofen: Organisator Ralph Börner demonstriert den Abwurf der 1100 Kilogramm schweren Boßelkugel.

Wettstetten (DK) Das Boßeln ist ostfriesischer Nationalsport. Den konnte nun auch eine Gruppe Wettstettener Männer ausprobieren - ohne dafür extra in den Norden reisen zu müssen. Ralph Börner, aufgewachsen in Oldenburg und seit 18 Jahren in Bayern, gab einen Nachmittag lang rund um Wettstetten eine Einführung ins Straßenkegeln.

Ein Versuch der Annäherung zweier Kulturen.

Es hat etwas von Vatertagsausflug: acht Männer mit Leiterwagen auf der Landstraße zwischen Wettstetten und Rackertshofen. Aber weit gefehlt. Dass es hier um ein ernsthaftes Unterfangen geht, merkt man schon bei der Einführung des Wahl-Wettstetteners Ralph Börner, als er die Boßelausrüstung vorstellt und der praktischen Einweisung einen kurzen Abriss über die Geschichte des ostfriesischen Straßenkegelns voranstellt: Das Boßeln habe seinen Ursprung nämlich im Klootschießen. "Kloote waren in früheren Zeiten Erdklumpen, in die man Blei hineingearbeitet hat, um sie gegen die Feinde als Wurfgeschosse zu benutzen. Oder um mit dem Nachbardorf die Kräfte zu messen. Heute sind die Kugeln nicht mehr aus Erde, sondern aus Gummi - aber mit Blei gefüllt sind sie immer noch", erklärt der 51-Jährige.

Das Ziel des Spiels ist einfach: die 1100 Gramm schwere Kugel mit möglichst wenigen Würfen auf Straßen und befestigten Wegen über eine festgelegte Strecke zu befördern. Zwei Teams mit je vier bis sieben Spielern treten gegeneinander an. Von der Stelle aus, an der die Kugel vom Weg abkommt, wird in der nächsten Runde weitergeworfen. Dabei bewegt der Werfer den Arm im Laufen zunächst nach hinten und dann mit einer schnellen Bewegung nach vorne, um die Boßelkugel mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit loszulassen. Ist die Kugel nach einer nicht allzu steilen Flugkurve wieder auf der Straße gelandet, soll sie da noch möglichst weit weiterrollen. Bei Boßelprofis sind bei guten Bedingungen Weiten bis zu 200 Meter pro Wurf keine Seltenheit.

Schon Theodor Storm berichtet in seiner 1888 erschienen Novelle "Der Schimmelreiter" vom Boßeln: "Gesprochen wurde von all den Menschen wenig; nur wenn ein Kapitalwurf geschah, hörte man wohl einen Ruf der jungen Männer oder Weiber; oder von den Alten einer nahm seine Pfeife aus dem Mund und klopfte damit unter ein paar guten Worten dem Werfer auf die Schulter."

Ganz so ruhig geht es beim Wettstettener Boßelausflug nicht zu. Börner hat die komplette Originalausrüstung für alle dabei und reicht die Kugeln herum, die mit ihren zehn Zentimetern Durchmesser aussehen wie überdimensionierte Flummis. Und sich beim Kegeln dann auch ungefähr so verhalten. Daher enden die ersten Probewürfe ziemlich schnell im Straßengraben. Sehr praktisch, dass auch eine Art Boßelkescher zur Ausstattung gehört, mit dem man die Kugel aus den Brennnesseln fischen kann - wenn man denn weiß, wo sie ungefähr gelandet ist. Dass es sich lohnt, darauf zu achten, wenn man nicht längere Zeit durchs Unterholz kriechen möchte, lernen die Boßelschüler sehr schnell. "Ihr müsst die Straße lesen", empfiehlt Börner vor dem Abwurf immer wieder - und das scheint sich wirklich auszuzahlen, denn die Würfe werden länger. Spezielle Herausforderungen bieten die Abzweige und Gabelungen, wenn die Kugel "um die Ecke" muss.

Armin Stangl - ein echter Bayer - ist nach einigen 100 Metern zurückgelegter Wegstrecke bereits sehr angetan von der neuen Erfahrung: "Ich finde, das ist eine klasse Sportart! Man ist draußen, in netter Gesellschaft, bewegt sich, kann seine ruhige Hand beweisen und, wenn es sein muss, auch noch beim Kugelsuchen im Gebüsch seinen guten Riecher zeigen. Mir macht's großen Spaß!"

Boßeln ist nicht nur in Ostfriesland bekannt, sondern wird auch international in verschiedenen spanischen, italienischen und Schweizer Regionen gespielt. Auch in Irland, Kanada und den USA gibt es verschiedene Formen des "Road Bowlings". Eigentlich ist es eine Wintersportart, weil die Landbevölkerung früher nur im Winter genügend Zeit zum Spielen hatte.

Doch zum Glück ist das Wetter in Wettstetten aktuell noch nicht nordisch kalt und nass, sondern spätsommerlich warm. "Schon nicht schlecht, dass wir heute auf die traditionelle ostfriesische Tracht aus Südwester, Friesennerz und Gummistiefel verzichten können. So ist's irgendwie netter", stellt Boßelschüler Lutz Morich lachend fest. Seine Kurskollegen und er sind beim Boßeln mit Freude "middenmang as blots dorbie", wie der Ostfriese sagt. Mittendrin statt nur dabei also.