Ingolstadt
Das erwartbare Ende

Gerolfinger Beilangreifer wird in Psychiatrie eingewiesen - Gericht weist Vorwürfe gegen Familie zurück

09.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:59 Uhr
Der bald 64-jährige Gerolfinger ging in dem Ingolstädter Stadtteil mit einem Beil auf seinen Schwager los und verletzte diesen lebensgefährlich. Das Opfer überlebte nach einer Notoperation. −Foto: Rehberger

Ingolstadt (DK) Es war eine Tat, die den Ingolstädter Ortsteil Gerolfing erschütterte: Mit einem Beil verletzte dort ein 64-Jähriger seinen Schwager lebensgefährlich. Gestern endete am Landgericht der umfangreiche Prozess, der die psychische Erkrankung des Mannes deutlich erkennen ließ.

Das Urteil, so sagte Landgerichtsvizepräsident Jochen Bösl bei der Verkündung gestern selbst, ist keine große Überraschung: Die 1. Strafkammer weist den Beilangreifer von Gerolfing dauerhaft in ein psychiatrisches Krankenhaus ein. Das hatten alle Prozessbeteiligten (Staatsanwalt Niki Hölzel, Nebenklagevertreterin Tanja Schwarz-Gewallig und Verteidiger Shervin Ameri) in ihren Plädoyers in ungewohnter Übereinstimmung genauso beantragt gehabt.

Mehr als eine Stunde nahm sich Bösl aber dennoch, um das erwartbare Ende des Prozesses zu erläutern. Gerade weil die Frage nach dem Geisteszustand eines Angreifers bei Bluttaten vorschnell aufkommt, so ist für das Gericht doch ein sehr viel genauerer Blick nötig. Sieben Tage nahm sich das Schwurgericht dafür; befragte Angehörige, langjährige Begleiter sowie Polizeibeamte und machte sich auch selbst ein Bild vom Angeklagten - welche Fragen und wie er sie den Betroffenen aus der traumatisierten Familie stellte, über die er so viel Leid gebracht hat. Man habe "schön und relativ anschaulich erkennen können, wie sein Gedankenbild aussieht", umschrieb Bösl die psychische Verfassung des Angeklagten.

Darum drehte sich die eine Hälfte des Prozesses. Die andere war die Aufarbeitung des genauen Hergangs der Beilattacke. Im Motiv verbanden sich beide großen Komplexe wieder. Das Schwurgericht sieht den Tatbestand des versuchten Mordes verwirklicht, als der bald 64-Jährige laut Bösl "in Tötungsabsicht" heimtückisch im Treppenhaus auf den im selben Haus lebenden und arglosen Schwager von hinten mit einem Beil losging und ihm lebensgefährliche Verletzungen zufügte. Mindestens achtmal hieb er mit der stumpfen Seite auf Kopf und Arme. Der Schwager überlebte den Angriff nach einer Notoperation. Er wird für immer ein Loch im Kopf haben. "Es ist ein Glück für alle Beteiligten, dass er heute noch lebt", sagte Bösl.

Der Angreifer hat dazu nichts beigetragen. Im Gegenteil: Ein Schwiegersohn des Schwagers musste den das Beil schwingenden 64-Jährigen mit voller Kraftanstrengung von dem Schwerverletzten abdrängen, indem er ihn mit einem Kleiderständer aus dem Haus trieb.

Dort setzte der Angreifer selbst einen Notwurf ab und erzählte der Polizei, er habe sein "Naturrecht" in Anspruch genommen. Bösl erklärte das mit den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung: "Aus der Sicht des Angeklagten stellte es sich als Akt der Notwehr dar, er konnte sich nicht mehr gegen die angeblichen Machenschaften wehren." Der Täter hatte sich über Jahre in Verschwörungstheorien verstrickt und sah unter anderem seinen Schwager als einen der Beteiligten an. Dessen Familie hatte ihn zwar 2013 in einer Notlage aufgenommen und für 200 Euro im Monat im Elternhaus leben lassen. Doch ein halbes Jahr später begann sich das Verhältnis irreparabel zu verschlechtern. Der Rückkehrer überzog die Familie seiner Schwester mit letztlich völlig haltlosen Vorwürfen von Diebstählen, Vandalismus und Mobbing. Es ging bis zu Strafanzeigen, die aber allesamt von den Ermittlern schnell wieder eingestellt wurden. Das zerrüttete Familienverhältnis mündete in einer von Schwager und Schwester angestrengten Räumungsklage, deren Ergebnis in einem Vergleich vor Gericht der planmäßige Auszug des 64-Jährigen zum 31. März 2017 war. Am Abend vor dem lange feststehenden Zwangsräumungstermin, als er sich offenbar in die Enge getrieben sah, schlug er dann auf fatale Weise zu.

Allerdings ist der Angeklagte laut Gericht schuldunfähig, da er an einer "anhaltenden wahnhaften Störung" leidet, wie ein psychiatrischer Gutachter in dem Prozess diagnostizierte. Der Angeklagte steigerte sich offenbar in seine Verschwörungsfantasie hinein. Alles aus seiner Umgebung, jeder Informationsfetzen, passte für ihn in sein Bild, um daran zu glauben, dass die Familie, hochrangige Politiker, Behörden, Anwälte und sogar Richter zusammenarbeiten, "um ihn mundtot" zu machen. "Tatsächlich aber hat die Gedankenwelt mit der Wirklichkeit nichts zu tun", so Bösl.

Den von Verteidiger Ameri im Plädoyer geäußerten Vorwurf, die betroffene Familie würde eine moralische Mitschuld an dem Beilangriff tragen, wies der Richter deutlich zurück: "Davon kann keine Rede sein. Dem Opfer eine Mitverantwortung zuzuschreiben, ist zu viel." Die gesamte Dimension der Erkrankung und des Wahnsystems des Angeklagten sei erst in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht erkennbar geworden. Selbst der Psychiater war sich davor in seiner Diagnose noch unsicher gewesen. "Es ist eine Krankheit, für die er nichts kann", sagte Bösl über den Angeklagten.

Dieser ist aber "unbehandelt und in Freiheit eine Gefahr für die Allgemeinheit", so ist die Strafkammer überzeugt, weshalb sie seine dauerhafte Einweisung nach München-Haar beschloss. "Er würde jeden in sein Wahnsystem aufnehmen", gab Bösl die Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen wieder.

Den Wahn wegzubekommen, sei wohl auch mithilfe der Ärzte kaum möglich. Ihn einzudämmen, könne aber gelingen. Bösl sprach "von den nächsten Jahren", in denen das unternommen werde. Sobald wird man den kranken 64-Jährigen nicht außerhalb einer geschützten Einrichtung sehen - wenn überhaupt jemals wieder.