Ingolstadt
Einraumdasein

Das ist Wohnungsnot: Familie Linger lebt seit einem Jahr zu dritt zusammengepfercht in einem Zimmer

21.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:46 Uhr

Ein Raum für alle und alles: Ungefähr 15 Quadratmeter dienen als Elternschlafzimmer, als Kinderzimmer, als Wohnzimmer und als Arbeitszimmer. Ein Jahr lang lebt die Familie Linger nun schon so. Das Foto entstand wegen der Enge mit extremem Weitwinkelobjektiv - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Günstiger Wohnraum ist knapp. Für Sozialwohnungen gibt es lange Wartelisten. Eine dreiköpfige Spätaussiedlerfamilie lebt seit einem Jahr auf 15 Quadratmetern in einem Zimmer. „Das ist eine Katastrophe“, sagt Oleg Linger. Ein Fall für das neue Sonderbauprogramm von OB Lösel.

Drei Menschen, die sich ein Zimmer teilen – wie hält das eine Familie aus? Trotz Liebe, Geduld und Rücksichtnahme? Seit einem Jahr nun schon lebt das Ehepaar Linger mit seiner 14-jährigen Tochter in einem Pensionszimmer. Ein Zimmer, das ungefähr 15 Quadratmeter groß ist. Die einzige Bleibe, die sie finden konnten. „Das Jobcenter zahlt dafür 750 Euro“, sagen sie. Inklusive Heizung und Strom.

Zwischen dem Ehebett linker Hand und dem Bett des Mädchens auf der rechten Seite ist nur ein schmaler Gang frei, der zum Schrank führt. Darin bewahrt die Familie ihre Kleidung auf. Auf dem Schrank liegen in Plastiktüten verpackt die Wintersachen. Einige kleine, übervolle Regale, zwei Stühle und ein winziger Schreibtisch stehen auch noch in dem Zimmer. Unter dem Tisch und in jeder Ecke stapeln sich Kisten, Bücher, Hefte und andere Habseligkeiten. In der Ecke ein kleiner Fernseher. Das Fenster lässt etwas Sonnenlicht hinein. Licht kann sich hier noch ausbreiten – ein Mensch nicht.

Es ist so eng in diesem Zimmer mit den blau gestrichenen Wänden, dass sich bereits nach kurzer Zeit Beklemmung einstellt und man sich unweigerlich zusammenkrümmt, um nicht noch mehr Platz wegzunehmen. Überfreundlich und zuvorkommend empfangen die Lingers den Besuch, „lassen Sie bitte die Schuhe an“, bieten Platz auf dem Bett der Tochter und etwas zu Trinken an und erzählen in gebrochenem, aber gut verständlichem Deutsch von ihrem Leben in Ingolstadt.

Die Spätaussiedlerfamilie stammt aus der Ukraine, aus einer Stadt nahe Donezk. Drei Jahre lang warteten sie auf die Erlaubnis, auszureisen. Als der Krieg ausbrach, ging plötzlich alles ganz schnell: Sie packten ihre Siebensachen, nahmen den Zug nach Kiew und gelangten von dort aus nach Deutschland. Zuerst lebten sie im Aufnahmelager Friedland, dann, während sie auf ihre deutschen Papiere warteten, in einem Übergangswohnheim. „Dort war es schrecklich schmutzig“, erinnern sie sich. Schließlich kamen sie ans Ziel ihrer Reise – nach Ingolstadt. Hier leben Verwandte, hier gibt es Arbeit.

Das Ehepaar Linger besucht jeden Vormittag den Deutschkurs, die 14-jährige Tochter geht auf die Realschule. Ihre Hausaufgaben macht sie an dem kleinen Schreibtisch. „Wenn ich mein eigenes Zimmer hätte, könnte ich in Ruhe lernen oder malen“, sagt das Mädchen, das seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Es schämt sich vor den Klassenkameraden, die nicht wissen, dass es mit ihren Eltern ein Zimmer bewohnt. Mal Freundinnen zu sich einladen – undenkbar.

Tränen steigen der 14-Jährigen hoch. Sie malt traurige Bilder, um aus dieser Beengtheit zu entfliehen: Eine Winterlandschaft mit kahlen Bäumen, ein Stillleben mit Kastanien, ein kleiner Hund. Sie hätte gerne einen eigenen Hund, erzählt das Mädchen. „Mein Traum.“ Auch undenkbar. Die Bilder kann es nicht einmal aufhängen, denn in der Pension darf man keine Nägel in die Wand schlagen. Die kahlen Wände sind eigentlich der einzige freie Raum in diesem Zimmer.

Der schmale, winzige Flur ist Küche und Esszimmer zugleich. Ein Herd mit zwei Platten, ein Minikühlschrank, ein Hängeschrank, ein schmaler Tisch, volle Regale. Eines für Obst und Gemüse, das andere für die Schuhe. Andere Lebensmittel stapelt die Familie in Plastikboxen. An der Eingangstür hängen hinter einem Tuch verborgen Jacken und Mäntel. Jeder Quadratzentimeter, jeder Winkel ist ausgenutzt. Alles ist ordentlich verstaut und blitzsauber. Anders geht es gar nicht.

Ein Jahr lang wohnt die Familie jetzt schon so auf engstem Raum zusammengepfercht. Keine Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeit. Höchstens im Badezimmer mal allein sein. Ausflüge mit dem Fahrrad an den Baggersee schaffen Abwechslung. „Wir dachten, zwei oder drei Monate können wir so leben, alles kein Problem“, sagt Oleg Linger. „Aber jetzt wird es langsam schwierig. Ich muss samstags um fünf Uhr aufstehen, ein paar Stunden arbeiten. Dann wachen alle auf. Um halb zehn nachts gehen wir alle ins Bett, denn unsere Tochter muss ja ausschlafen für die Schule. Manchmal würde ich gern Fußball im Fernsehen anschauen, aber das geht nicht.“

Oleg Linger ist von Beruf Elektriker und hat jetzt eine Stelle in Aussicht, seine Frau ist Einzelhandelskauffrau. Beide lernen fleißig Deutsch, wollen arbeiten. Vor einem Jahr hat die Familie bei allen hiesigen Wohnungsbaugesellschaften eine Sozialwohnung beantragt. Aber die Chancen stünden schlecht dieses Jahr, so wurde ihnen gesagt. Nächstes Jahr vielleicht auch noch.

Natürlich haben sich die Lingers auch selber auf dem freien Wohnungsmarkt nach einer Bleibe umgeschaut. Im Internet haben sie Angebote erhalten, aber die waren Schwindel. Sonst nichts. „Niemand braucht arbeitslose Mieter so wie uns“, sagt Oleg Linger. Von dem neuen Sonderbauprogramm hat er gehört. „Super“, meint er, blickt um sich und seufzt: „Wir brauchen noch ein bisschen Geduld.“ Für ein bisschen Geduld ist kaum noch Platz in diesem Zimmer.