Ingolstadt
Ein verkanntes Juwel

16.07.2010 | Stand 03.12.2020, 3:51 Uhr

Ein Rad Geranien: Annette Krüger verschönert ihr Heim.

Ingolstadt (DK) Das ehemalige Weinzierlgelände ist ein Refugium der ganz besonderen Art: Es liegt zwar mitten in der Stadt, aber im Dornröschenschlaf. Hier leben und arbeiten Menschen, die sich ganz wohl in der Abgeschiedenheit fühlen. Unangemeldeter Besuch wird aber freundlich empfangen.

Von wegen Schleichweg: Die wohl beliebteste Rennstrecke des Südens ist der Baggerweg momentan, weil die Haunwöhrer Straße gesperrt ist. Tag für Tag fahren Tausende Autos und Radfahrer am früheren Weinzierlgelände vorbei, doch kaum jemand weiß, was sich hinter dieser grünen Wand befindet. Hie und da sind ein paar Lagerhallen und Schuppen zu erkennen. Doch auf den ersten Blick wirkt alles wie ausgestorben auf dem riesigen Areal.
 

Kaum zu glauben, aber es rührt sich allerhand hier. Das Liegenschaftsamt hat nachgezählt: 28 Mieter sind es insgesamt, und alle haben dieselbe Adresse – Baggerweg 11. Es sind Firmen, Vereine wie die Siebenbürger Sachsen oder die Videoamateure und ein paar Bewohner. Denn hier leben auch Menschen. Annette Krüger zum Beispiel ist vor drei Monaten mit ihrem Mann eingezogen. "Und mit drei Miezen: Für die brauchten wir was Ruhiges." Kleine Fotos der Katzen kleben am Namensschild.

Die Krügers haben sich gemütlich eingerichtet in der Dreizimmerwohnung gleich neben der Probenbühne des Theaters. Annette Krüger liebt Blumen: Direkt an der Hauswand lehnt ein Kutschenrad mit kleinen Geranientöpfchen auf den Speichen, auf der anderen Straßenseite, neben dem wuchernden Gebüsch, steht eine ausrangierte Schubkarre, die als Blumentopf dient und von einem knollennasigen Gnom bewacht wird.

Beim Blumengießen ist Annette Krüger neulich fast über den Haufen gefahren worden. "Das hier ist ein Wohngebiet – die müssten mal mehr Schilder aufstellen", schimpft sie über die Raser. "Aber sonst fühlen wir uns ganz wohl hier."

Einmal abgesehen von Annettes kleiner Gartenidylle ist das Gelände eigentlich eine reine Männerwelt. Bereits seit 28 Jahren ist die Firma Barth und Teich hier ansässig. Juniorchef Norbert Wagner steht lässig in Bermudas und Turnschuhen in der Lagerhalle, die in dämmriges Licht getaucht ist. "Hier liegen unsere Schätze: ein paar hundert Tonnen Metall."

Alles fein sortiert auf Regalen: Breitflanschträger und Formstahl, Hohl-, Profil- und Rundrohre jeder Größenordnung, Stabstahl in allen Ausführungen und auch Bleche – Grobbleche, Feinbleche, Riffelbleche und Tränenbleche. "Wir beliefern Audi-Zulieferer, Industriebetriebe wie Esso, aber auch Schlosser", sagt der Junior. "Wir sind eine kleine, überschaubare Firma mit zwölf Beschäftigten und zwei Lkw. Unsere Stammkundschaft kommt aus einem Umkreis von 50 Kilometern." Die zentrale Lage auf dem ehemaligen Weinzierlgelände mache sich da bezahlt.

Ein älterer Mann putzt auf dem großen Parkplatz vor dem Metalllager gerade sein Auto. "Früher war hier mal in einem Teil der Halle meine Schlosserei", erzählt Wolfgang Meis. "Die Kräne da drinnen sind noch meine." Inzwischen hat er nur noch zwei Container gemietet, in einem davon hat sich der Rentner eine Werkstatt samt CNC-Fräsmaschine eingerichtet. Irgendwie lässt es einen wohl nicht los – dieses Weinzierlgelände.

Beim Schlosser Meis hat Paul Freitag früher einmal gearbeitet, lange bevor er seine Firma Belo Werbetechnik gründete, deren Werkstatt und Lager seit 2003 am Baggerweg ansässig sind. "Ich kenn’ das hier schon immer", erzählt der Unternehmer. "Einfach schön ist es hier und total ruhig. Das Büro hab’ ich allerdings woanders, wo es repräsentativer ist."

Mit seinem Sohn Daniel, gelernter Schilder- und Lichtreklamehersteller, arbeitet Freitag gerade an der Werbeaufschrift auf einem grünen Lieferwagen einer Gärtnerei. Aus dem Radio dudelt Musik, und der Vater kommt ins Erzählen: "Da drüben stehen die Messecontainer vom Beckenbauer-Robert – mein bester Freund. Als der Hauser-Wigg, der Künstler, noch hier war, da hat man sich ausgetauscht, da haben wir Würstel gegrillt, das hat richtig Spaß gemacht."

Mittlerweile hat ein anderer Künstler auf dem Gelände sein Atelier eröffnet: Fredi Neubauer hat gerade eine kleine Schaffenspause eingelegt und macht Brotzeit. Freundlich lädt er den Besuch auf ein Glas Rotwein ein und erzählt von seiner Ausbildung zum Kirchenmaler, warum seine Pinsel so ordentlich an der Wand hängen und warum er so gerne den Auwald und Mühlräder malt. "Ich mal’ eigentlich alles, was in der Gegend vorkommt. Hier draußen, das ist mein Refugium, wo man Stille hat und ganz allein sein kann, wenn man will. Wo man aber auch hundert Parkplätze hat für Besucher, wenn man eine Ausstellung eröffnet." Neubauer hat auch ein Bild vom Weinzierlgelände gemalt: "Damals, bevor hier aufgeräumt wurde. Seitdem wird es ja immer kultivierter."

Oder kultig – wie in der Rollerfabrik. Auch so eine schummrige Werkstatt, in der es nach Motoröl riecht, in dem die Schweißfunken fliegen und diese strenge Ordnung herrscht, die Männer an solchen Orten schaffen. Inhaber Thomas Schauß zog vor fünf Jahren hierher, aber auch er kennt das Gelände seit langem. "Mein Opa war Werkstattleiter auf dem Weinzierlgelände und hat das alles gebaut." Der junge Vespa-Sammler erinnert sich an Fotografien von früher: "Da sind sie hier bei Hochwasser mit Booten auf dem Gelände herumgefahren. Auch wir hatten schon einmal Hochwasser: Da sieht man noch die Spuren an der Wand."

Schauß erzählt, immer wieder kämen Kunststudenten her, um auf dem Weinzierlgelände zu fotografieren. Motive gibt es genug: Ein alter Schrottlaster, unter dem Blumen hervorsprießen, Stapel abgefahrener Autoreifen, windschiefe kleine Holzschuppen, in denen wer weiß was aufbewahrt wird. Es ist geheimnisvoll an diesem Ort, wo sich die Natur still, aber stetig zurückholt, was ihr einst entrissen wurde.

So richtig schön aufgeräumt ist es nur hinter der Einfahrt zum Gelände, wo die Mitglieder von der DAV-Sektion Ringsee das Umfeld des Kletterzentrums verschönert haben. "Wir hatten 38 000 Besucher vergangenes Jahr", sagt Vorsitzender Stefan Moser. "Es kann nicht sein, dass die in so einer Schmuddelecke ankommen." Moser meint, es gäbe genug Möglichkeiten, diese Industriebrache zu entwickeln – auch wenn sie mitten in einem Überschwemmungsgebiet, weil direkt an der Donau, liegt. "Andere Städte an Flüssen beweisen, dass so etwas geht. Die Hallen von Betonbau etwa stehen schon seit Jahren leer. Da könnte man einen Indoor-Beachvolleyballplatz errichten. Wo in einer vergleichbaren Stadt gibt es so eine Fläche, wohnortnah und doch im Grünen? Das hier ist ein Juwel, doch es wird verkannt und vernachlässigt." Schade, findet Moser. Aber vielleicht ist es auch ganz gut so.