Ingolstadt
"Keiner weiß, wie es weitergeht"

Junge Flüchtlinge im Südwesten: Starker Widerstand der Anlieger gegen Wohnheimbau an der Gustav-Adolf-Straße

29.07.2015 | Stand 02.12.2020, 20:58 Uhr

Ansturm: Der Pfarrsaal von Herz Jesu wurde wegen Überfüllung geschlossen, Dutzende hörten von der Terrasse aus zu. - Foto: Silvester

Ingolstadt (DK) Das neue Pfarrheim von Herz Jesu an der Zeppelinstraße ist am 5. Juli eingeweiht worden. Am Dienstagabend erlebte es seine Feuertaufe – sofern man das bei einem Haus der Kirche sagen darf.

Die Informationsveranstaltung zur Beherbergung elternloser, minderjähriger Flüchtlinge im Südwesten hatte kaum begonnen, da mussten Pfarreimitarbeiterinnen die Türen zum Saal mit Tischen versperren: wegen Überfüllung. Die zulässige Kapazität von 150 Personen wurde komplett ausgeschöpft, viele Dutzend weitere Zuhörer verfolgten den bewegenden Abend von der – gottlob – geräumigen Terrasse des Pfarrheims aus. Drinnen setzte ein Großaufgebot der Stadtverwaltung alles daran, offen und möglichst undramatisch die nächsten zwei Notfallmaßnahmen zur Einquartierung unbegleiteter Minderjähriger – amtlich abgekürzt u M – unters Volk zu bringen, denn Notlage folgt auf Notlage. Obwohl die Stadt, Hilfsorganisationen und engagierte Bürger ihre Kräfte bündeln, um die Ankunft von immer mehr Flüchtlingen – ihre Gesamtzahl steigt bald auf 1400 – zu bewältigen, geriet das Bekenntnis „Keiner weiß, wie es weitergeht“ zum Refrain dieses Abends.

Kulturreferent Gabriel Engert kämpfte mit vollem Einsatz um Verständnis für die Not der jungen Flüchtlinge, bat darum, sie „als Chance und keine Gefahr“ für die Gesellschaft zu begreifen“, versicherte aber auch immer wieder „Wir nehmen Ihre Sorgen ernst“. Maro Karmann, der Leiter des Amts für Kinder, Jugend und Familien, erinnerte daran, dass die etwa 120 jungen Leute, die ab August im leeren Nordtrakt des Schulzentrums Südwest einquartiert und unterrichtet werden, eine Menge durchgemacht hätten. „Viele waren ein Jahr und länger auf der Flucht – allein.“

Karl-Heinz Haak, der Direktor des Apian-Gymnasiums, informierte nicht nur, er hielt eine kleine Rede, für die er Beifall bekam. „Wir werden die Jugendlichen annehmen, wie wir jeden Jugendlichen annehmen: mit gegenseitigem Respekt und Anerkennung. Es ist ein Grundsatz des Apians, interkulturelle Kompetenz zu vermitteln – und die können wir jetzt zeigen! Wir wissen natürlich, dass es nicht ohne Schwierigkeiten abgehen wird, aber wir wollen dazu beitragen, dass es so gut wie möglich läuft.“ Unter den Eltern ist die Sorge weit verbreitet, dass wegen des Flüchtlingsquartiers der Zeitplan für den Neubau des Apian-Gymnasiums ins Wanken gerät. Engert versicherte: „Wir wollen unbedingt, dass der Bau zügig weitergeht! Wir geben uns größte Mühe, dass die Flüchtlinge in einem Jahr woanders wohnen – aber verbindlich kann ich gar nichts zusagen, weil keiner weiß, wie es weitergeht.“

Beim nächsten Punkt wurde es laut und unruhig im überfüllten Saal. Der Plan der Stadt, auf dem Grünstreifen an der Gustav-Adolf-Straße gegenüber dem Schulzentrum ein Wohnheim für Flüchtlinge und Studenten zu errichten, stieß auf heftigen Protest – vor allem unter Anliegern, die um den Wert ihrer Immobilien fürchten und ihre Ablehnung unverblümt artikulierten. „Bloß nix Festes da hinstellen!“, hieß es. Und Parkplätze würden auch noch wegfallen. „Die Stadt kümmert sich nur noch um Flüchtlinge, aber nicht mehr um die Interessen ihrer Bürger!“, schimpfte einer. „Warum wird der Bebauungsplan nicht geändert“, fragte eine Frau. Auch deshalb, weil das mindestens zwei Jahre dauere, antwortete Engert. Ein ums andere Mal wurde der Ruf nach einer dezentralen Unterbringung laut. „120 Leute auf einem Haufen, dieses Konzept verstehe ich nicht!“ Starker Beifall. Antwort Engert: „Wir sehen uns außerstande, so viele so schnell dezentral unterzubringen. Doch ich versichere Ihnen: Wir suchen unentwegt nach Räumen. Und wir suchen überall!“

Nachher, beim Heimradeln, brachte ein älteres Ehepaar das Problem in schlüssiger bayerischer Logik auf den Punkt. Sie: „Des is alles ned so einfach. Und des is erst der Anfang. Aber es helft nix.“ Er: „Ja. Es helft nix.“

Fragen der Bürger - Antworten der Stadtverwaltung Wie alt sind die Flüchtlinge, die im Schulzentrum untergebracht werden, und wie geht es mit ihnen weiter, wenn sie volljährig sind? „Es sind 15- bis 18-jährige Jungs“, antwortete Maro Karmann, der Leiter des Amts für Kinder, Jugend und Familie. Sie unterliegen der Berufsschulpflicht. Es ist das Ziel, die Ausbildungsfähigkeit und Talente der jungen Leute festzustellen. Man sei auch bestrebt, sie rasch zu Selbstständigkeit anzuleiten. Wenn sie volljährig sind, werde man sie weiter unterstützen, da gebe es ambulante Möglichkeiten. Werden die jungen Leute auf Krankheiten untersucht? Selbstverständlich, antwortete die Medizinaloberrätin Ursula Becker vom Gesundheitsamt, so wie alle Flüchtlinge, und das gleich, wenn sie aus dem Bus steigen. Sie werden auf Infektionen, akute Krankheiten und Verletzungen untersucht. Am Ankunftstag wird jeder, der älter als 15 ist, geröntgt, um Tuberkulose zu erkennen. Gibt es einen Notfallplan, falls sich Flüchtlinge danebenbenehmen? Nein, gibt es nicht, antwortete Kulturreferent Gabriel Engert. Denn die Erfahrungen mit den elternlosen Flüchtlingen, die bereits in der Stadt leben, zeigten, dass es kaum ein Sicherheitsproblem gebe. Nur einmal musste ein schwieriger Jugendlicher aus einer Gruppe genommen werden. Ferner: Alkohol. „Das ist allgemein bei Jugendlichen ein problematisches Thema, auch bei Deutschen.“ Und: Ein Sicherheitsdienst wird Tag und Nacht am Schulzentrum wachen, „aber nicht, weil wir glauben, dass die jungen Leute Ärger machen, sondern um zu verhindern, dass ihnen Ärger gemacht wird“. Eine Sozialpädagogin der Roland-Berger-Stiftung, die ebenfalls unbegleitete Minderjährige in Ingolstadt betreut, richtete ein leidenschaftliches Plädoyer an das Publikum. Man müsse die jungen Menschen als Chance für unser Land begreifen. „Die kommen nicht, um Ärger zu machen, die kommen, weil sie hier etwas erreichen wollen!“ Was wird getan, um unerwünschte Annäherungsversuche und sexuelle Missverständnisse zu vermeiden? Die Ankömmlinge werden von Sexualpädagogen sofort darüber unterrichtet, was in Deutschland zum guten Ton gehört, was sich nicht ziemt, „und dass es nicht gleich ein Freibrief ist, wenn ein Mädchen einen anschaut“, sagte Stephan Reinfurt von der Jugend- und Familienhilfe Ambuflex, die seit einem Jahr auch Flüchtlinge betreut. „Unsere Erfahrungen, zeigen, dass viele Ängste sehr, sehr unbegründet sind.“ Es sei also um so wichtiger, das den Bürgern zu vermitteln. „Das muss zusammen entstehen.“ Dürfen die Flüchtlinge die Sportanlagen auch ohne Betreuer nutzen? Alles wird nach Absprache mit den Vereinen geregelt. Johann Stachel, Präsident der DJK, die in der Bezirkssportanlage Südwest am Schulzentrum daheim ist, bemerkte grundsätzlich: „Über den Sport ist es einfacher, Anknüpfungspunkte für Flüchtlinge zu finden. Diese Chance werden wir nutzen!“