Ingolstadt
Freiheit statt Fesseln

Vom Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in Heimen – und dem Weg zur Besserung

12.09.2012 | Stand 03.12.2020, 1:04 Uhr

Ingolstadt (DK) 140 000 Menschen in Deutschland werden regelmäßig in Heimen fixiert. Die Zahl stammt aus dem Qualitätsbericht der Krankenkassen für Pflege in Deutschland. Vom Amtsgericht Ingolstadt wurden heuer 259 freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigt. Die Entscheidung – eine Gratwanderung.

Es ist eine Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Da ist das Risiko, dass sich ein pflegebedürftiger Heimbewohner bei einem Sturz schwer verletzt. So war es auch bei Michael F. (Name geändert). Der 78-jährige Ingolstädter, der im Caritas-Altenheim St. Pius lebt, leidet an Demenz. „Er kann nicht mehr auf seinen Beinen stehen“, sagt seine 72-jährige Ehefrau und Betreuerin. Zwei Jahre lang war er, nachdem sie auf eine Empfehlung des Krankenhauses nach einem Sturz den entsprechenden Antrag beim Amtsgericht Ingolstadt gestellt hatte, regelmäßig gefesselt. Mit Bauchgurt, Bettgurt und Bettgitter. Jetzt soll der Mann ein Stück persönlicher Freiheit wiederbekommen.

Den Entschluss, ob jemand fixiert werden soll, trifft der Betreuer oder ein Bevollmächtigter. Das zuständige Amtsgericht prüft, ob diese Entscheidung den gesetzlichen Vorschriften entspricht. Denn laut Bürgerlichem Gesetzbuch dürfen freiheitsentziehende Maßnahmen in Heimen und Kliniken nur dann angewandt werden, wenn Gefahr besteht, dass sich der Bewohner an Leib und Leben schädigt und er selbst nicht einwilligungsfähig ist. Am Ingolstädter Amtsgericht, das für die Stadt und den Landkreis Eichstätt zuständig ist, wurden heuer laut Amtsgerichtsdirektor Herbert Krammer bislang 287 Anträge auf Fixierungen geprüft. 28 Fälle wurden abgelehnt. Zu den Einzelschicksalen äußern sich die Betreuungsrichter nicht. Doch man gehe sehr verantwortungsvoll mit dem Thema um, prüfe jeden Fall ganz genau – und komme dazu natürlich auch in die Heime. „Die Belastung ist brutal. Wir bemühen uns trotzdem, keine Routine einkehren zu lassen“, sagt ein Richter.

Die Augsburgerin Gabriele Wawrok wurde vom Amtsgericht Ingolstadt bei Michael F. als Verfahrenspflegerin eingesetzt – als Mittler zwischen dem zu Pflegenden, der Betreuerin, der Behörde und dem Gericht. Warwok ist gelernte Krankenschwester. Außerdem hat sie Betriebswirtschaftslehre und Jura studiert. Und sie ist Verfechterin des sogenannten Werdenfelser Weges, einer Initiative, die 2007 von dem Betreuungsrichter Sebastian Kirsch im Landkreis Garmisch-Partenkirchen gegründet wurde. Es geht darum, dass Menschen in Pflegeheimen unter würdigen Bedingungen leben können, ohne zu viele Einschränkungen und ohne an Bett oder Rollstuhl gefesselt zu sein. Hauptziel ist, alle an der Pflege Beteiligten an einen Tisch zu bringen und nach einer Alternative zur Fixierung zu suchen. Kirsch spricht von einem „Klimawandel in der pflegerischen Situation“. Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen sei die Zahl der Anträge auf Fixierung dauerhaft um bis zu 80 Prozent zurückgegangen. Gut 70 Landkreise in Deutschland haben sich bereits offiziell zum Werdenfelser Weg bekannt. Etwa genau so viele seien interessiert. Auch mit den Ingolstädter Richtern sei er in regelmäßigem Kontakt, sagt Kirsch dem DONAUKURIER.

Die Verfahrenspflegerin Gabriele Wawrok sieht in Ingolstadt bereits Erfolge. Etwa bei Michael F. und einem weiteren Bewohner des Heimes St. Pius, wo Bauchgurte jetzt nur noch dann verwendet werden, wenn sie nicht unter Aufsicht sind. Zu den Mahlzeiten oder Beschäftigungszeiten werden die Gurte geöffnet – mit Einverständnis der Betreuer, betont Heimleiter Egon Schuster.

Das Umdenken, das in den letzten Jahren in Sachen Fixierung in Deutschland stattfindet, ist von politischer Seite gewollt. Auch das bayerische Sozialministerium fordert, auf freiheitsentziehende Maßnahmen soweit wie möglich zu verzichten. Das Ingolstädter Danuvius-Haus für Menschen mit Demenz ist von dem Ministerium bereits 2007 für seinen verantwortungsvollen Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgezeichnet worden. Hier setzt man auf klare Strukturen und Hilfsmittel wie Kopfschutzhelme, Hüftschutzhose oder Niederflurbetten.

Der Münchener Pflegekritiker Claus Fussek nennt den Werdenfelser Weg eine „segensreiche Initiative“. In einem guten Heim ohne Personalmangel seien Fixierungen überflüssig. „Wir fesseln ja auch nicht unsere Kinder, weil es zu wenig Erzieher gibt.“