Ingolstadt
Es gibt noch Wichtigeres als Leistung

Das Caritas-Zentrum St. Vinzenz legt Wert auf eine ganzheitliche und persönliche Betreuung der Schüler

24.04.2017 | Stand 23.09.2023, 2:46 Uhr

Individueller Unterricht: Im Caritas-Zentrum St. Vinzenz stehen die Fähigkeiten der Kinder an erster Stelle, nicht die Leistung. Am Förderzentrum unterrichten 50 Lehrer 160 Schülerinnen und Schüler, die die Einrichtung bis zur 12. Klasse besuchen können. - Foto: Schmeizl

Ingolstadt (DK) Im Förderzentrum des Caritas-Zentrums St. Vinzenz lernen 160 Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Ein Besuch in einer Schule, in der es nicht in erster Linie um Leistung geht, sondern um das Individuum und seine persönlichen Fähigkeiten.

Sieben Drittklässler sitzen im Klassenzimmer in einem Stuhlkreis zusammen. Bevor die Studienreferendarin Lilja Ott mit dem Sachkundeunterricht loslegen kann, startet sie mit einem Ritual in den Schultag: dem Morgenkreis. "Wer weiß denn, welchen Wochentag wir heute haben", fragt Ott in die Runde und blickt jedem lächelnd ins Gesicht. Ein Schüler kennt die Antwort: "Donnerstag." Im Anschluss spaziert ein Bub zur Tafel und schiebt das Kalendertürchen nach rechts, bis die 16 von dem roten Kästchen umrahmt ist. "Christian, wie heißt die Zahl mit eins und sechs" "Sechzehn", antwortet der Schüler. Im Anschluss schreiben er und Thomas (Schülernamen von der Redaktion geändert) gemeinsam das Datum an die Tafel, jeder eine der Ziffern. Zum Morgenkreis gehört auch der Blick aufs Wetter. Die Kinder schauen fragend Richtung Fenster. Ott hilft. Sie holt aus einem Stapel eine Karte hervor, auf der Sonne und Wolken abgebildet sind, und gibt sie einem Schüler, der sie an die Tafel hängt. Danach kündigt die angehende Lehrerin an: "Jetzt wollen wir einmal unsere Hände aufwecken." Dazu singen die Drittklässler das Lied "Wozu sind unsere Hände da". In jeder Strophe werden die Schüler zu einer anderen Bewegung aufgefordert. So gehört zum morgendlichen Aufwärmprogramm das Winken, das Klatschen sowie das pantomimische Schreiben und Klavierspielen in der Luft. Nicht alle Schüler können während des Singens die Handbewegungen selbstständig ausführen, einige brauchen die Unterstützung der beiden Schulbegleiterinnen und von Referendarin Ott. Sie helfen den Schülern zum Beispiel dabei, die Hände zu Fäusten zu ballen und sie wieder zu öffnen. Jedes Kind, das im Morgenkreis sitzt, ist anders, jedes hat eine andere geistige Beeinträchtigung. Lisa zum Beispiel ist mit dem Down-syndrom auf die Welt gekommen, Christian hat Autismus - nicht alle Drittklässler sind in der Lage, sinnentnehmend zu lesen oder sich verbal zu äußern. Darauf kommt es im Förderzentrum des Caritas-Zentrums St. Vinzenz aber nicht in erster Linie an. Denn hier steht "nicht die Leistung im Vordergrund, sondern das Individuum", wie Rektor Roberts Krigers (kleines Foto) betont. Wer der jungen Lehrerin im Unterricht zusieht, kann diese Aussage nur bestätigen: Mit viel Geduld, Verständnis und Empathie betreut sie jeden ihrer Schützlinge individuell.

Die sieben Drittklässler gehören zu den 160 Schülern, die das Förderzentrum besuchen. Die Schule legt den Fokus auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Hier unterrichten 50 Lehrerinnen und Lehrer, darunter Sonderschulpädagogen, Grundschul- und Realschullehrer sowie Fachlehrer für Ernährung und Gestalten, Werken oder Religion. Kinder können bereits ab dem Vorschulalter im Rahmen der sogenannten schulvorbereitenden Einrichtung (SVE) das Förderzentrum besuchen. Im Anschluss geht es, sofern die Schüler in St. Vinzenz bleiben, in die Grundschule und danach in die Mittelschule (5. bis 9. Klasse). "Die Besonderheit ist, dass die Schüler bei uns die Möglichkeit haben, noch die Jahre 10 bis 12 zu absolvieren, um die Berufsschulpflicht zu erfüllen", erklärt Krigers, der seit acht Jahren Rektor in St. Vinzenz ist.

Nach dem Aufwärmpogramm arbeiten die Kinder mit den Kisten, "um die feinmotorischen Fähigkeiten der Schüler zu trainieren", erklärt Ott. In jedem Behälter befinden sich andere Utensilien, mit denen die Kinder hantieren. Während Thomas versucht, herzförmige Badeschwämme mit einer Zange auf ein Tablett zu befördern, steckt Lisa Strohhalme in ein löchriges Gefäß. Konzentriert fädelt Johannes kleine Holzperlen auf eine Schnur auf. Christian lässt mit einer Pipette Wasser auf die Oberfläche eines Legosteins tropfen. Dazu benötigt er viel Fingerspitzengefühl. Ott geht zu jedem Kind und steht ihm zur Seite - das eine braucht mehr Hilfe, das andere weniger.

Wer einen Rundgang durch das Förderzentrum macht, dem fällt auf, wie vielfältig die Kinder dort betreut werden. Zum Therapieangebot gehören Logopädie, Ergo- und Physiotherapie oder heilpädagogische Förderung. Bei der Förderung der Kinder arbeitet die Schule auch mit Tieren und Musik. Nachmittags gehen die Schüler in die Heilpädagogische Tagesstätte.

Die Schule genießt einen guten Ruf und die Zusammenarbeit mit den Eltern ist vertrauensvoll. Trotzdem bemüht sich Krigers immer um Verbesserungen. Inklusion ist ein Thema, das ihm am Herzen liegt. Seit 2013 arbeitet der Rektor mit der Lessing-Grundschule zusammen, wo acht Schüler aus St. Vinzenz stundenweise mit einer 4. Klasse gemeinsam lernen. Das Partnerklassenmodell ist einmalig in Ingolstadt. Im nächsten Schuljahr wird das bewährte Inklusionsprojekt wieder mit einer 1. Klasse beginnen.

Vor einigen Jahren war der Schulleiter im Rahmen eines EU-Projekts, das vom LandesCaritasverband ausging, mit anderen Sonderpädagogen auf einer Exkursion in Finnland. Dort hat der Rektor, wie er erzählt, Schulen besichtigt und sich mit Wissenschaftlern über das Thema Inklusion ausgetauscht. "Da haben wir gesehen, dass die Finnen schon sehr weit sind. Sie sagen, dass Deutschland hinsichtlich Inklusion auf dem Stand von Finnland von vor 30 Jahren ist." In dem skandinavischen Land ist es laut Krigers so, dass alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf inkludiert werden - "mit Ausnahme einer Gruppe: Das sind die Kinder, die einen erhöhten Pflege- beziehungsweise Förderbedarf haben, dem man an einer Regelschule nicht gerecht wird, weil die Bedürfnisse zu speziell sind". Ein Modell, das auch in Deutschland funktionieren könnte? "Ich denke, der finnische Weg ist der, den wir auch mal in Zukunft beschreiten könnten."

Xenia Schmeizl