Ingolstadt
Ein historischer Umbruch

Digitalisierung und Industrie 4.0: IG Metall diskutiert über Zukunft der Arbeit und der Gewerkschaften

24.11.2015 | Stand 02.12.2020, 20:30 Uhr

„Kollege Roboter“ und Beschäftigte arbeiten Hand in Hand: Im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt („Industrie 4.0“) werden Mensch und Maschine noch viel enger zusammenarbeiten. Die Berufswelt wird sich ändern – und die Arbeit von Betriebsräten und Gewerkschaften auch. - Foto: Audi

Ingolstadt / Manching (DK) Im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt wird sich auch die betriebliche Mitbestimmung gravierend ändern. Wie sich das konkret auswirken kann, diskutierten 140 IG-Metall-Mitglieder im Rahmen der Konferenz „Vision Ingolstadt 2030“ im Saal des Museums Manching.

n Die Gewerkschafter: Für die große Mehrheit der Metaller gibt es keine Frage: Digitalisierung ohne Betriebsräte hat den gläsernen Arbeitnehmer zur Folge. Rund 90 Prozent der Gewerkschafter vertraten diese Auffassung und noch mehr sind der Meinung, dass in den Unternehmen mehr Demokratie nötig ist. Es dauerte übrigens nur Sekunden, bis diese Ergebnisse feststanden: Ermittelt wurde sie per Smartphone über ein lokales WLAN, und wer kein Gerät dabei hatte, bekam eins geliehen. Die IG Metall probierte im Manchinger Museum neue Beteiligungsformen aus, wozu auch die Diskussion in Kleingruppen ohne Tische sowie ein World Café (wechselnde moderierte Diskussionsgruppen) zur Mitbestimmung zählten.

Die Bewahrung des persönlichen Kontakts ist für die Funktionäre gerade im digitalen Zeitalter wichtiger denn je. Ihrer Meinung nach müssen die Mitarbeiter qualifiziert und eine Spaltung der Belegschaft (digital/nicht-digital) unbedingt verhindert werden. Bei der Umsetzung neuer Arbeitsformen müssten Betriebsräte und Gewerkschaften aktiv mitwirken. Dafür sei auch eine Erweiterung der Mitbestimmung unverzichtbar. Nicht zuletzt der Datenschutz ist den Metallern auch sehr wichtig.

n Gestaltung der Mitbestimmung: Spannend wurde es bei der Frage, wie denn diese Zukunft der Arbeitswelt aus Sicht der Arbeitnehmervertreter zu gestalten ist. In einer ersten Diskussionsrunde forderte Thomas Sattelberger den Übergang vom Arbeitnehmer zum „souveränen Unternehmensbürger“, der seine Interessen selber vertritt. „Innovation ist nicht durchführbar in alten Hierarchien“, betonte der frühere Lufthansa- und Telekom-Vorstand. Er warnte auch davor, das Schlagwort Industrie 4.0 auf bloße Digitalisierung zu verkürzen. „Wir dürfen nicht nur über die Schutz-, sondern müssen über die Freiheitsrechte der Arbeitnehmer reden“, erklärte er. So sollten Beschäftigte beispielsweise künftig ihre Kollegen oder ihre Chefs selber wählen. Der Arbeitsvertrag sollte durch einen „Menschenvertrag“ ersetzt werden.

Dass in den Betrieben mehr Demokratie nötig sei, unterstrich auch sein Gesprächspartner Peter Mosch. Aber dafür benötige man ein „gutes institutionelles Fundament“, so der Audi-Gesamtbetriebsratsvorsitzende. Das deutsche Modell der Mitbestimmung garantiere Stabilität und einen Vorteil im Wettbewerb. Gerade in weltweit tätigen Branchen wie dem IT-Bereich sei ein weiterer Ausbau unverzichtbar.

Skeptisch sind freilich die Arbeitnehmer: 70 Prozent meinen, dass die Mitbestimmung nicht fit sei für die digitale Zukunft. Und Audi-Betriebsrat Klaus Mittermaier konnte sich nicht verkneifen, an Sattelbergers Vorstandstätigkeit bei Continental hinzuweisen: Dieser hatte nämlich die Arbeitszeit erhöht, aber nicht die Gehälter der Mitarbeiter.

n Digitalisierung der Arbeit: In einer zweiten Diskussionsrunde begegneten sich Johann Horn, 1. Bevollmächtigter der IG Metall Ingolstadt, und Prof. Andreas Boes, Vorstand des Instituts für Sozialforschung, die die Digitalisierung der Arbeit beackerten – wobei sie sich freilich meist einig waren. „Digitalisierung ist kein automatischer Prozess“, betonte Horn. Frühere technische Umwälzungen seien stets einhergegangen mit gesellschaftlichen Umbrüchen und der Herausbildung einer Zivilgesellschaft. Ganz wichtig sei der Schutz der Arbeitnehmer bei künftigen Veränderungen. „Die Digitalisierung ist ein historischer Umbruch“ – darin stimmten fast alle Anwesenden Boes zu. Die deutschen Unternehmen müssten hier einen eigenen Weg finden, das Silicon Valley könne kein Vorbild sein. „Wir können nicht weitermachen wie bisher“, rief er den Metallern zu. An der amerikanischen Westküste stehe man vor dem „Katapultstart in die neue digitale Gesellschaft“. Zentrales Thema sei die Erfassung und Verwertung von Daten mit dem Ziel eines globalen Kommunikationsraums und weltweiten Geschäften über Internet-Marktplätze. Daher sei in Deutschland die soziale Komponente äußerst wichtig.

Horn erinnerte an die rasante Entwicklung der Informationstechnologie. Dennoch werde es Tätigkeiten wie etwa am Band geben, die davon nicht betroffen sind, was eine drohende Spaltung der Arbeitswelt zur Folge haben könnte. „Demokratie in der Arbeitswelt braucht Informationen, Wissen und Transparenz“, betonte er. Den Begriff Industrie 4.0 bezeichnete er als falsch, es müsse „Internet für alle“ heißen. Er warnte auch vor Aktionismus: „Wir können alles diskutieren, da bin ich dabei. Aber wir müssen nicht alles über den Haufen werfen.“

n Zukunft der Gewerkschaften: Auch das hatte es noch nie gegeben – per Liveschaltung nach Frankfurt diskutierte Jörg Schlagbauer mit Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall. „Die Entgrenzung der Arbeit macht die Arbeit der Betriebsräte und der IG Metall schwieriger“, sagte der Vertrauenskörperleiter der Metaller bei Audi. Denn die Digitalisierung mache es möglich, unabhängig von Büros oder festen Zeiten zu arbeiten. Die Gewerkschaftsvertreter rief er auf, die neuen Medien zu nutzen und die digitale Zukunft aktiv mitzugestalten, wobei der Mensch immer im Mittelpunkt stehen müsse.

Christiane Benner pflichtete ihm bei. Es gehe darum, Digitalisierung öffentlich zu machen und die Beschäftigen zu schützen. Die Digitalisierung werde zu „massiven Verschiebungen in der Arbeitswelt\" führen und neue Berufsbilder entstehen lassen. „Arbeits- und Freizeit werden verschwimmen, die Trennlinien verwischen“, lautet ihre Vorhersage. Vor allem das Crowd- oder Clickworking könne Lohndumping zur Folge haben, was einem Angriff auf die Stammgewerkschaften gleich komme. Darunter versteht man die weltweite Vergabe von Ingenieursdienstleistungen übers Internet, was bei fast allen großen Automobilunternehmen bereits üblich ist.

IG-Metall-Vizechefin Christiane Benner und die Gewerkschaften wollen sich daher für soziale Mindeststandards für Crowdworker einsetzen und haben bereits erste Vereinbarungen abgeschlossen. „Die Führungskräfte werden lernen müssen, loszulassen“, sagt Benner voraus, da digital arbeitende Beschäftige eben nicht immer präsent sind. Sie prognostiziert außerdem eine „Ungleichzeitigkeit der Arbeitsfelder“: Bandarbeiter sind an feste Orte und Zeiten gebunden, wählen aber bei Audi den Betriebsrat – im Gegensatz zu Crowdworkern.