Ingolstadt
Ein Leben am Polder

Blick über den Tellerrand: Wie sich die Bürger am Oberrhein mit den Hochwasserschutzmaßnahmen arrangiert haben

27.08.2015 | Stand 02.12.2020, 20:52 Uhr

Die Anlieger im 1879-Seelen-Ort Neupotz wehrten sich, formiert als Bürgerinitiative. Die Landwirte zogen vor Gericht, bis in die höchste Instanz – und verloren.

Ingolstadt/Großmehring (DK) Flutpolder gelten heute als wichtige Waffe gegen Hochwasser. Auch in der Region sind mehrere geplant. Die Bedenken der Anlieger und Landbesitzer sind jedoch groß.

Deshalb lohnt ein Blick über den Tellerrand: Am Oberrhein sind Polder bereits Realität. Wie stehen die Bürger hier dazu? Wie wurden Grundwasserprobleme gelöst? Wie reagierten die Landwirte

Was nach den Plänen des Bayerischen Umweltministeriums bald an der Donau zwischen Großmehring und Manching, bei Münchsmünster oder auch stromaufwärts zwischen Bertoldsheim und Marxheim entstehen soll, ist in ähnlicher Form in der südpfälzischen Gemeinde Neupotz schon Realität: Der größte Polder am rheinland-pfälzischen Oberrhein ist einsatzbereit. 18 Millionen Kubikmeter Wasser können mit einer Kombination aus ungesteuerter Deichrückverlegung (4,2 Millionen Kubikmeter) und gesteuerter Polder-Rückhaltung (13,85) dem Fluss entnommen werden. Damit ist der Polder Wörth/Jockgrim insgesamt so voluminös wie der geplante Bertoldsheimer Verwandte.

Er ist ein Glied in einer langen Kette aus Hochwasserschutzmaßnahmen entlang des Oberrheins, bei dem nicht nur Bundesländer, sondern auch Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten. Allein Rheinland-Pfalz hat seit 2013 acht Polder mit einem Volumen von 51,51 Millionen Kubikmetern bereitstehen.

Für Wörth/Jockgrim wurde 1999 mit dem Planfeststellungsverfahren begonnen – nicht ohne Widerstände. Die Bürgerinitiative „Kein Polder Neupotz“ kämpfte zusammen mit der Gemeinde gegen die Pläne. Knapp 300 Einwendungen wurden erhoben, 70 Bürger klagten. Mit drei Musterklagen zog man bis in die höchste Instanz, das Bundesverwaltungsgericht. Und verlor.

„Das Allgemeingut steht im Vordergrund. Da war nichts zu machen“, erzählt Roland Bellaire. Er ist selbst Bauer, hat damals selbst geklagt, war selbst in der Bürgerinitiative aktiv – und ist seit Mai 2014 Ortsbürgermeister von Neupotz. „Mir schlagen zwei Herzen in der Brust“, sagt Bellaire. „Ich bin selbst Landwirt, aber irgendwann muss man Kompromisse machen.“ Die Lage habe sich beruhigt. „Der Polder ist jetzt da, was soll man sich aufregen“, schildert der Bürgermeister die Stimmung.

Die federführende Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd beschreibt in einer Infobroschüre zum Polder eine Art Wandlung: „Um trotz der Widerstände eine große, mögliche Akzeptanz vor Ort zu erhalten, wurde von Seiten der SGD Süd in Kooperation mit der Gemeinde Neupotz im Januar 2003 ein Pilotprojekt gestartet, das Projekt ,Leben am Strom‘.“ In einem Bürgerforum wurden Wünsche aus den Bereichen Naherholung, Tourismus, Natur und Umwelt gesammelt. In einem alten Bauernhaus schuf man ein Polder- und Aueninformationszentrum. Mit einer großangelegten Flurbereinigung und Grundstückskäufen begegnete man der Landwirtschaft. „Aus ,Kein Polder Neupotz’ wurde die Modellgemeinde ,Leben am Strom’“, wirbt die Direktion.

Wurde hier wirklich der Saulus zum Paulus? Ortsbürgermeister Roland Bellaire ist skeptisch. „Es war eine große Gegnerschaft da, dann hat man gesehen, dass es nichts bringt, und hat Kompromisse gesucht.“ Insbesondere das Thema Grundwasser habe die Anwohner umgetrieben. Wie in Bertoldsheim auch, gab der Staat die Garantie, die Grundwassersituation werde sich nicht verschlechtern. Spundwände und Pumpwerke wurden installiert sowie Schieber, die den Zufluss über Gräben und Bäche regeln; über das neue Schöpfwerk wird der Altrhein laut SGD Süd auf einem festen Niveau gehalten. „Die Grundwasserverhältnisse im Großraum der Rückhaltung werden im Rahmen eines langfristigen Grundwassermonitorings dokumentiert, so dass nach einem Einsatz der Rückhaltung die Funktion der Anpassungsmaßnahmen überprüft werden kann“, heißt es in der Projektbeschreibung. Nun wartet alles auf den Tag X – auf den Ernstfall. „Es wird halt noch mal Geschrei geben, wenn geflutet wird“, schätzt Ortsbürgermeister Bellaire.

60 Kilometer weiter südlich ist man da schon weiter. In Rheinmünster nutzte man 2010 ein Hochwasser, um den zwölf Millionen Kubikmeter Wasser fassenden Flutpolder Söllingen/Greffern probeweise zu fluten. „Es gab keine überfluteten Keller“, berichtet Konrad Reith, Leiter des Bauamtes Rheinmünster.

Großen Widerstand habe es nicht gegen das Projekt gegeben, aber: „Das Grundwasser war die größte Sorge. Der Polder geht bis unmittelbar an die Ortsgrenze ran.“ Schöpfwerke, acht Grundwasserhaltungsbauwerke plus eine Galerie aus neun Brunnen halten das Grundwasser auf einem festgelegten Niveau. „Wir hatten die Probeflutung. Damals wurde auch der Nachweis geführt, dass diese Pumpen auch funktioniert haben“, erklärt der Bauamtsleiter. „Die Annahmen, die damals getroffen worden sind, sind auch so eingetroffen. Wir haben das als Gemeinde offen begleitet“, erzählt Reith und lädt alle interessierten Bertoldsheimer ein, sich in Rheinmünster selbst ein Bild vom Polder zu machen: Es gibt zwei Lehrpfade zum Thema Hochwasserschutz.