Ingolstadt
Der erste Schritt

Debatte um Integrationsgesetze: Warum Sprach- und Orientierungskurse für Migranten so wichtig sind

30.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:36 Uhr

Dialog statt Frontalunterricht: Anna Schneider (l.) bindet alle Schüler in den Unterricht ein. Sie ist in Russland geboren und hat in Eichstätt promoviert. Lehrer, die nicht in Deutschland studiert haben, müssen beim BAMF eine Zusatzqualifikation erwerben. Bei der Kolping-Akademie wird viel Wert auf eine Mischung verschiedener Kulturen im Kurs gelegt. - Foto: Sonnenberger

Ingolstadt (DK) Derzeit beraten der Bundestag und der Bayerische Landtag über Integrationsgesetze. Diese sehen unter anderem vor, Flüchtlingen schnell Plätze in Integrationskursen zu vermitteln. Was genau lernt man dort? Zu Gast in einem Orientierungs- und in einem Sprachkurs der Kolping-Akademie.

"Was sind die Hauptstädte der 16 Bundesländer", fragt Gülseren Aksu die Klasse und teilt ein Arbeitsblatt aus, auf dem die Deutschlandkarte abgebildet ist. Die Schüler befragen sich gegenseitig. Alle Antworten sind richtig. Nach dem föderalen Aufbau Deutschlands stehen die Kompetenzen der Verfassungsorgane auf dem Stundenplan. "Wie heißt der Bundespräsident", fragt Gülseren Aksu eine Schülerin aus der Ukraine. Die schaut unsicher auf den Tisch. "Joachim Gauck", sagt Aksu. Von dem hat der Kurs noch nie gehört. Anschließend dürfen die Schüler erzählen, wie sich das politische System in ihrem Heimatland von dem in Deutschland unterscheidet. "Syrien ist keine Demokratie, sondern eine Diktatur", berichtet ein junger Syrer.

Gülseren Aksu leitet einen Orientierungskurs der Kolping-Akademie in Ingolstadt. Dort sollen die Schüler die politische Kultur Deutschlands kennenlernen. Die Teilnehmer kommen aus vielen verschiedenen Ländern und Kulturen, zum Beispiel aus der Ukraine, Italien, Tschechien, Syrien und Griechenland. Jeder von ihnen hat andere Gründe dafür, in Deutschland neu anfangen zu wollen. Doch sie alle müssen zunächst die Sprache und die Kultur des Landes kennenlernen, in dem sie arbeiten möchten.

"WIR REDEN ÜBER KÖLN"

"Das Ziel des Orientierungskurses ist, die Rechte und Pflichten kennenzulernen, die man in Deutschland hat", berichtet Aksu. Neben einem Überblick über deutsche Geschichte und Politik vermittle sie den Schülern in dem knapp dreiwöchigen Kurs auch, welche Hilfen der deutsche Staat bereitstelle und welche Verhaltensweisen hierzulande nicht erwünscht seien. "Wir reden zum Beispiel über die Vorfälle in Köln in der Silvesternacht", erzählt sie. Der Orientierungskurs findet im Anschluss an den Sprachkurs statt. Beide Kurse werden mit einer Prüfung abgeschlossen. "Zusammen dauern die Kurse 660 Unterrichtsstunden oder etwa acht Monate", erläutert Aksu.

Nadeem Khan kommt aus Pakistan und nimmt an dem Kurs teil. Der 28-Jährige ist schon im Alter von 18 Jahren nach Italien ausgewandert, um dort als Techniker zu arbeiten. Nach zehn Jahren in Italien arbeitet er jetzt in Ingolstadt für Audi. Vormittags besucht er den Integrationskurs und nachmittags arbeitet er. "Mit den Kollegen spreche ich zurzeit noch Englisch", erzählt Khan. Ihm sei die Umstellung von der pakistanischen auf die europäische Kultur nicht schwergefallen, da er von Anfang an einen Arbeitsplatz gehabt habe.

Das trifft nicht auf jeden im Kurs zu. Manche Teilnehmer arbeiten in der Gastronomie oder als Altenpfleger. Doch ohne Sprachkenntnisse sind viele auch auf staatliche Hilfe angewiesen. Georgios Stafylidis ist seit sieben Monaten in Deutschland. In seiner Heimat Griechenland hatte er einen Job als Buchhalter, aber wegen der Liebe hat es ihn nach Ingolstadt verschlagen. "Ich bin zufrieden mit dem Kurs. Zu Beginn konnte ich kein Wort Deutsch", erzählt der 30-Jährige. Er fühle sich schon gut integriert, denn er spiele in Vohburg mit vielen Deutschen zusammen beim Turnverein (TV) Fußball.

TÜCKISCHE GRAMMATIK

Im Sprachkurs wird der Grundstein für eine gelungene Integration gelegt. Anna Schneider unterrichtet für die Kolping-Akademie seit Mitte April einen allgemeinen Kurs (zur Erklärung siehe Infokasten). "Zu Beginn des Kurses hatten die Schüler außer der lateinischen Schrift keine Vorkenntnisse", erklärt die 37-Jährige. Viele Flüchtlinge kennen aber die lateinische Schrift nicht. Sie müssen vorher einen dreimonatigen Alphabetisierungskurs besuchen.

Der Kurs von Anna Schneider ist eine Mischung aus sechs Nationalitäten, darunter Polen, Eritreer, Syrer und Russen. Schneider setzt in ihrem Unterricht viel auf Dialog. "Jedes Wort auf Arabisch kostet zehn Cent", ermahnt sie einen Schüler, der mit seinem Nachbarn tuschelt, während die anderen Präpositionen üben.

Die Teilnehmer sollen ein bisschen von ihrem früheren Leben erzählen. Eine junge Frau aus Polen hat schon bei einer Versicherung und einer Telekommunikationsfirma gearbeitet, bevor sie nach Deutschland kam. Jetzt verdient sie ihr Geld als Putzhilfe. Eine 21-jährige Eritreerin ist zur Schule gegangen, bevor sie aus dem Land geflohen ist. Sie hat den Traum, eines Tages Hotelmanagerin zu werden. Es gefällt ihr gut in Deutschland. Ob die Schüler auch etwas nicht so toll finden, fragt Anna Schneider. "Dativ und Akkusativ", erwidert ein Schüler. Alle lachen.

WARTEN FRUSTRIERT

Abdullatif Nebras ist Syrer und im Dezember 2015 über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Er beschwert sich, dass seine Familie immer noch in Ägypten auf den Familiennachzug warten muss. "Ich bin HNO-Arzt und möchte in Deutschland in meinem Beruf arbeiten. Stattdessen soll ich ein Praktikum machen. Hier leben nette Leute, es ist ein nettes und demokratisches Land, aber das Warten ist sehr frustrierend", klagt der 43-Jährige. Nach dem Krieg möchte er wieder zurück in seine Heimat.

Anna Schneider kann sich in ihre Schüler gut hineinversetzen, denn sie war selbst einmal Migrantin. Schneider ist in Russland geboren und hat dort Germanistik studiert. Während ihrer Promotion in Eichstätt heiratete sie und blieb in Deutschland. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Deutschlehrerin. "Ich gehe gerne in die Arbeit", sagt sie. Ihr mache es Spaß, dass die Schüler aus vielen verschiedenen Kulturen kommen. Dennoch bleibe sie immer objektiv. "In der Regel fallen drei bis vier Schüler durch die Prüfung. Wenn das passiert, muss man die letzten drei Module des Kurses wiederholen", berichtet Schneider. Um optimal auf den deutschen Arbeitsmarkt vorbereitet zu sein, rät Schneider den Schülern dazu, ihre Sprachkenntnisse nach dem Integrationskurs selbstständig weiter zu verbessern.