Ingolstadt
Das Grauen nimmt kein Ende

90 Jahre Hinterkaifeck: Drei Experten über den geheimnisvollsten Mordfall der bayerischen Kriminalgeschichte

23.03.2012 | Stand 03.12.2020, 1:41 Uhr

Eine Gruselgeschichte aus dem wahren Leben: Andreas Gruber (gespielt von Blasius Gruber) und seine Tochter Viktoria (Traudl Bernhard) in Hans Fegerts 1981 gedrehtem Film, der am 31. März im Neuen Schloss gezeigt wird. Der Einödhof, auf dem die sechs Menschen starben (unten ein Tatortfoto der Münchner Kripo), wurde 1923 abgerissen. Hier erinnert heute ein Marterl an das grausame Verbrechen. - Fotos: Archiv

Ingolstadt (DK) Das Verbrechen wurde für ganz Bayern zum Urerlebnis des Bösen. Am 31. März 1922 starben auf der Einöde Hinterkaifeck nahe Schrobenhausen der Bauer Andreas Gruber (63), seine Frau Cäzilia (72), ihre Tochter Viktoria, deren Kinder Cäzilia (7) und Josef (2) sowie eine 44-jährige Magd. Allen wurde mit einer Hacke der Schädel eingeschlagen.

Der rätselhafte Mord wurde nicht aufgeklärt. 1955 schloss die Polizei die Akten. Doch die Tat packt die Menschen noch immer. Die Spekulationen gehen weiter. Das Grauen nimmt kein Ende.

Drei Hinterkaifeck-Experten beleuchten den berühmten Fall zum 90. Jahrestag im Gespräch mit Christian Silvester: Der Ingolstädter Heimatchronist Hans Fegert, dessen 1981 gedrehter, viel beachteter Film über das Verbrechen am Abend des 31. März im Neuen Schloss gezeigt wird (siehe Kasten), der Journalist Peter Leuschner, dessen Bücher den Mord bundesweit bekannt gemacht haben, und Konrad Müller, Kriminalhauptkommissar a. D., der seit 30 Jahren privat in dem Fall ermittelt.

 

Meine Herren, was fasziniert die Leute auch 90 Jahre später noch dermaßen an diesem Fall?

Hans Fegert: Weil er ungelöst ist. Jeder spekuliert, keiner weiß, wer der Mörder war, und jeder versucht, den Mörder auf eigene Weise zu finden. Ich habe mich schon als Kind in diesen Mord reingesteigert!

Peter Leuschner: Es ist genau so, wie es der Hans sagt: Wenn der Fall aufgeklärt worden wäre, würde sich heute wohl keiner mehr dafür interessieren.

Konrad Müller: Der Fall wirkt vor allem als Inzest-Fall für viele sehr interessant. Dazu kommt die bedauernswerte Zahl von sechs Leichen, das ganze Milieu um Hinterkaifeck herum, der Einödhof als solcher . . .

Leuschner: . . . dann natürlich der Name und all die unheimlichen Begleitumstände vor der Tat wie Viktorias mysteriöse Geldspende in der Kirche. Nicht zu vergessen, dass es bis heute kein sicheres Motiv gibt.

 

Es ist eine Menge geboten: Mord, Inzest, hässliches Gezerre um die Anerkennung eines Kindes, das dann erschlagen wird, ein verschollener Ehemann, erstaunlicher Reichtum der Opfer, unheimliche Ereignisse vor der Tat, rätselhafte Vorfälle danach. Wo liegt die Grenze zu pietätlosem sich Laben am Grauen?

Fegert: Ich glaube, heutzutage gibt’s keine Grenze. Die Leute können sich an allem laben.

Müller: Ich finde es schädlich, dass man jetzt schon Gruselwanderungen um den Tatort veranstaltet, denn das ist ausgesprochen pietätlos! Der Fall als solcher bleibt ein Kriminalfall – in aller Ernsthaftigkeit!

Leuschner: Ich habe, wenn ich ganz ehrlich bin, selber ein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich wie der Zauberlehrling: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los. Fehlen nur noch Hinterkaifeck-Tassen, die am Tatort verkauft werden! Andererseits hat mich der Fall selbst so fasziniert, dass ich vor 35 Jahren dorthin gefahren bin. Warum sollte man es den anderen jetzt verbieten?

Wie kamen Sie auf den Fall?

Leuschner: Ich bin mit Hinterkaifeck groß geworden – in einer fernseherlosen Zeit, in der sich die Leute abends noch Geschichten erzählt haben. 1951 erschien im DK Ludwig Heckers Fortsetzungsgeschichte über den Mord, 1952 ist dann der Anton Gump verhaftet worden (ein Nachfahre des berühmten Räubers Ferdinand Gump, er wurde aber nicht angeklagt, d. Red.) – da war ich zwar noch ein Kind, aber das war auch Jahre später ein Tagesthema. Damals habe ich beschlossen: Wenn ich groß bin, werde ich alles zu diesem Fall zusammentragen und ein Buch darüber schreiben.

Müller: Als ich zur Kripo gekommen bin, habe ich mich sofort dafür interessiert, wieso der Fall nie gelöst wurde. Daher habe ich in den Achtzigern alle verfügbaren Zeugen vernommen.

Herr Fegert, Sie haben Ihren Film mit Bürgern aus der Umgebung von Hinterkaifeck gedreht. Welche Stimmung haben Sie damals gespürt?

Fegert: Der Hecker hat mir prophezeit: Wenn ich in die Nähe von Hinterkaifeck komme, dann würde ich vor verschlossenen Türen stehen. Ich hab’s ihm erst nicht geglaubt, musste es aber bald erleben. Man hat mich sehr energisch darauf hingewiesen, dass es Ärger gibt, wenn ich Namen nenne. Dann ruft mich der Horst Seehofer aus Bonn an und sagt: ,Der Bürgermeister von Waidhofen, der Josef Plöckl, will vor der Premiere deinen Film sehn.’ – aber ich lass’ mich doch nicht zensieren! Es ist tatsächlich so, dass die Familien heute noch völlig verfeindet sind.

Jetzt mal ehrlich: Man weiß doch eigentlich, wer der Täter war, darf es aber nicht sagen, weil es sich nicht beweisen lässt.

Fegert: Ich glaube, die Leute wollen einfach endlich ihre Ruhe haben, denen ist es wurscht, wer der Mörder ist. Außerdem wissen sie’s sowieso . . .

Leuschner: Vor allem hat jeder Ort einen anderen Mörder im Kopf. Wie viele Verdächtige gibt es? 20 oder so?

Müller: Nach meiner Meinung sind es nur zwei. Entweder, oder. Nicht in Mittäterschaft. Als Polizist würde ich es aber als sehr schlimm empfinden, jemanden zu beschuldigen, wenn die Beweise fehlen.

Leuschner: Das wäre einfach absolut unseriös!

Gab es jemals eine Chance, den Fall aufzuklären?

Müller: Heute nicht mehr. Am Anfang gab es die Chance aber zweifellos. Die Sicherung von Fingerabdrücken war seit 1909 bekannt. Die Frage ist: Warum hat man diese Technik nicht in Hinterkaifeck angewandt?

Leuschner: Da ist bei der Polizei alles schief gelaufen, was nur schief laufen konnte!

Welche waren die schlimmsten Ermittlungspannen?

Leuschner: Dass etwa der Tatort überhaupt nicht abgesperrt war! Bevor die Kriminaler aus München kamen, sind da Dutzende durchs Haus marschiert und haben zerstört, was an Beiweisen da gewesen wäre.

Müller (zieht eine Liste raus): In den Akten sind Namen, Orte, Zahlen, Uhrzeiten ungenau, falsch oder sie fehlen. Die Tatortsituation ist äußerst dürftig beschrieben, die Umgebung gar nicht. Die Ermittler waren keine zehn Stunden am Tatort. Außerdem: Keine Sicherung der Fingerabdrücke, Beschreibungen nur grob und flüchtig. Wo war zum Beispiel der zweite Schuh des Andreas Gruber? Ist das Vieh nach der Tat gefüttert worden? Wichtige Zeugen wurden erst Jahre später oder gar nicht vernommen. Warum war der Hund der Familie um 14.30 Uhr an der Kette an der Tür, wo ihn ein Mechaniker gesehen hat, aber um 17.30 Uhr, als die Leichen von Nachbarn entdeckt wurden, verletzt im Stall? Diese Fragen wurden nie geklärt.

Leuschner: Aus dem Umfeld der Opfer ist niemals jemand vernommen worden. Ich frage mich auch: Wie sind die Opfer in die dunkle Futterkammer gelockt worden? Das Gebrüll einer losgerissenen Kuh, wie erst vermutet, war im Haus nicht zu hören, das hat man überprüft.

Wieso waren alle Leichen zugedeckt? Im Stadl mit einer Tür, die Magd mit einem Laken und der Bub mit einem Rock.

Müller: Diese Vorgehensweise ist häufig der Fall, wenn sich der Täter längere Zeit am Tatort aufhält und den Anblick der Leichen nicht ertragen will.

Wieso sind keinerlei Privatfotos der Opfer überliefert?

Leuschner: Die Nachkommen hatten kein Interesse, die rauszurücken. Oder hast du welche gesehen, Koni?

Müller: Keine Namen! Mit etwas Hartnäckigkeit habe ich ein paar Hochzeitsfotos gesehen. Ich habe auch herausgefunden, dass es bei den Grubers kurz vor der Tat einen heftigen Streit gegeben hat. Was war los in den wenigen Stunden? Dieser Fall ist ja nicht wie ein heraufziehendes Gewitter, er beginnt schon 1886, als der Andreas Gruber die neun Jahre ältere Cäzilia geheiratet hat. Eine der wichtigsten Fragen ist auch: Warum hat die Frau kurz vor dem Mord 13 624 Mark abgehoben? Wozu hat sie das viele Geld gebraucht? Und wo ist es geblieben?

Vor zehn Jahren hat eine alte Frau bei der „Schrobenhausener Zeitung“ angekündigt, dass sie jetzt endlich den Brief liefert, der alles aufklärt. Wie oft haben Sie so etwas schon gehört?

Leuschner: Zig Mal!

Müller: Ich habe es von der Frau persönlich gehört. Aber ich bezweifle ihre Aussagen.

Leuschner: Da haben sich schon viele wichtig gemacht.

Und wie oft träumen Sie von einem Brief, der alles aufklärt?

Leuschner: Diese Hoffnung habe ich längst aufgegeben.

Müller: Der Fall Hinterkaifeck ist und bleibt ein dunkles Kapitel der deutschen Kriminalgeschichte und des menschlichen Zusammenlebens.