Ingolstadt
24 Stunden des Mahnens

Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung des KZ Auschwitz im Reuchlin-Gymnasium

25.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:17 Uhr

Ingolstadt (DK) Die jährliche Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus findet am morgigen Mittwoch ab 11 Uhr in der Pausenhalle des Reuchlin-Gymnasiums statt. Eingebettet ist sie heuer in eine öffentliche 24-stündige Aufführung des dokumentarischen Dramas "Die Ermittlung" von Peter Weiss.

Als Peter Weiss' Dokumentarstück "Die Ermittlung" am 19. Oktober 1965 gleichzeitig von 16 Theatern (von München bis Berlin) uraufgeführt wurde, setzte das eine große Diskussion in Gang. Denn das Stück brach ein bis dahin gut gehütetes Tabu: das Thema Auschwitz. "Die Ermittlung" thematisiert den ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963 - 1965) mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters. Peter Weiss selbst hatte als Zuschauer dem Prozess beigewohnt - und entwickelte aus den Protokollen ein Stück. Weiss lässt Richter, Zeugen und Angeklagte auftreten. Er nutzt authentisches Material, inhaltlich unverändert, in der Form aber bearbeitet. "Die Ermittlung" ist in elf "Gesänge" unterteilt und nach thematischen Schwerpunkten geordnet. Das Stück zeichnet den Weg der Opfer von der Rampe bei der Ankunft in Auschwitz bis zur Massenvernichtung (Gesang vom Zyklon B, Gesang von den Feueröfen). Entstanden ist so einer der wichtigsten Texte zur Aufarbeitung des Holocaust.

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Seit 1996 ist der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Und seither gestalten die weiterführenden Schulen Ingolstadts jedes Jahr abwechselnd einen Moment des Innehaltens. In diesem Jahr haben sich Schüler und Schülerinnen des Reuchlin-Gymnasiums für ein Projekt entschieden, das die Dimensionen einer "gewöhnlichen" Gedenkveranstaltung sprengt. Den kompletten 27. Januar wollen sie ihre Schule für alle Interessierten öffnen (Mitschüler, Lehrer, Eltern, Bürger) und von 0 bis 24 Uhr in der Pausenhalle Peter Weiss' "Ermittlung" vortragen.

Möglich machen das Lehrer Christian Albert und sein Wahlkurs "Theater und Film" (Q 11/12). Seit Beginn des Schuljahres befassen sich die 14 Akteure zwischen 16 und 19 Jahren mit dem Stück, sahen sich eine alte Schwarz-Weiß-Verfilmung an, sprachen über Theater, Geschichte, Politik, Schuld und Sühne, Gerechtigkeit und Strafe, die Nachwirkungen ins Heute, die eigene Haltung. Natürlich war ihnen das Thema Auschwitz bekannt. "Man wird in vielen Fächern an das Thema herangeführt - Geschichte, Kunst, Musik, Sozialkunde, Deutsch", sagt Kilian Funk. Aber die Beschäftigung mit Peter Weiss' Dokumentartheater brachte einen ganz neuen Zugang. Denn plötzlich waren die Schüler in ihren Rollen Teil der Geschichte, einer "knallharten Realität". Sind Vertreter der Justiz, Zeugen, Angeklagte, das Volk, das zusah und mitmachte.

Das wird sich auch in der Bühnensituation niederschlagen. Während der Richter zentral und erhöht sitzt - flankiert von Verteidiger und Ankläger -, werden die Angeklagten selbst im Publikum sitzen, zwischen den Zuschauern. In Anzügen. "Die Kostüme helfen, in die Rollen zu finden", sagt Kilian Funk. "Wir proben auch immer in schwarzen Sachen." "Dann sind wir nicht mehr im Alltag, sondern im Theater - und unter Gleichen", fügt Veronika Königer an. Im Gespräch wird schnell deutlich: Die Schüler brennen für Theater. Tijana Bonic, seit zwei Jahren im Spielclub dabei, kann sich die Schauspielerei sogar als Beruf vorstellen. "Man lernt sich selbst neu kennen", sagt Veronika Königer.

So ein Stück wie Peter Weiss' "Ermittlung" macht mit den Schülern etwas, darin sind sich die drei einig. "Man nimmt das mit nach Hause", sagt Kilian Funk. Man reflektiert. Man wird sensibel für die aktuelle politische Situation und vor allem Tendenzen von rechts. Auch das Intention des Projekts: erinnern und mahnen.

Peter Weiss' "Ermittlung": Am Mittwoch um 0 Uhr wird einfach angefangen. Die Akteure haben sich in zwei Gruppen von je sieben Mitspielern aufgeteilt. Jede Gruppe liest drei Stunden, dann wird drei Stunden pausiert, während die andere Gruppe übernimmt. Trotzdem bedeutet das für die Schüler einen Kraftakt. Es gibt Ängste - vor Müdigkeit, nachlassender Konzentration, schwindender Motivation. Aber es gibt auch Taktiken, wie der Gedenk-Marathon zu schaffen ist: von Bewegungseinheiten über kontrollierte Flüssigkeitszufuhr bis zu Vorschlafen und Powernapping. Schlafräume und Kaffeemaschine werden von der Schule gestellt.

Zwischen 10.30 und 12.30 Uhr wird die Lesung unterbrochen, denn in dieser Zeit findet die offizielle Gedenkfeier statt, bei der es nicht nur Ansprachen und Musik gibt, sondern die Neuntklässler darüber hinaus einen Bogen aus der Nachkriegszeit in die Gegenwart schlagen und Fakten aus dem jüngsten Auschwitz-Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning vortragen. Danach geht es weiter mit der "Ermittlung" - bis Mitternacht. Jeder, der sich dafür interessiert, kann einfach kommen und zuhören - und wenn es nur eine Viertelstunde ist.