Eichstätt
"Angst gewinnt gegen Hoffnung"

Der Soziologe Joost van Loon über den Erfolg der AfD im boomenden Ingolstadt und die psychologische Strategie der Partei

28.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:25 Uhr

Prof. Joost van Loon forscht und lehrt seit 2010 an der Universität Eichstätt. Der Schwerpunkt des Soziologen ist die Risikoforschung. - Foto: Schulte Strathaus

Eichstätt/Ingolstadt (DK) Vor dem Fenster seines Büros im ehemaligen Eichstätter Kapuzinerkloster liegt der Friedhof der Stadt. Doch Joost van Loon, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Katholischen Universität, stört das überhaupt nicht. "Auf der anderen Seite schaut man auf das Krankenhaus", erzählt er. "Das ist viel schlimmer!"

Diese unbeschwert-fröhliche Sicht der Dinge kommt Van Loon, 1967 in den Niederlanden geboren, beruflich sicher entgegen, denn eines seiner Spezialgebiete ist die Risikoforschung. Sein Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl am Sonntag fällt da weitaus düsterer aus. Der Soziologe bietet Antworten auf die große Frage, warum die Alternative für Deutschland (AfD) ausgerechnet im boomenden Ingolstadt so erstaunliche Erfolge erzielen konnte, aber nicht nur dort, sondern ebenso in ländlichen Vororten und im beschaulichen Eichstätt. Van Loon erläutert auch, welche Bedeutung das "deutsche Blut" für das Selbstverständnis vieler Russlanddeutscher besitzt, und was CSU-Politiker jetzt besser unterlassen sollten.

Herr Professor, warum wählen in einer wohlhabenden Stadt wie Ingolstadt mit annähernder Vollbeschäftigung und einem blühenden Kulturleben mehr als 15 Prozent der Bürger eine aggressive, rechte Protestpartei?

Joost van Loon: Für Soziologen sind Wahlen interessant, weil sie ganz kurzfristige Entscheidungen betreffen. Aber man macht einen Fehler, wenn man denkt, dass jedes Individuum ganz alleine entscheidet. Das glauben Soziologen nicht - ich zumindest nicht. Für mich ist Wahlverhalten ein Nachahmungsphänomen. Es ist wie eine Krankheit.

 

Wie eine Krankheit?

Van Loon: Ja. Wie eine Infektion. Wahlergebnisse muss man ein bisschen epidemologisch angehen, glaube ich. Das hört sich wie Pathologie an. Man kann es auch mit anderen Dingen vergleichen, etwa mit einer Mode - so muss man ein bisschen auch die Politik sehen. Es ist kein Einzelphänomen. Es ist nicht Ingolstadt allein und auch nicht Deutschland allein. Es ist ein Phänomen, das man überall in der Welt sieht. Es ist momentan überall der Fall, dass man für bestimmte Probleme bestimmte Lösungen sucht. Die Lösungen, die die AfD anscheinend mit Erfolg vorschlägt, muss die Partei natürlich nicht selbst ausführen. Das ist sehr einfach. Wenn man weiß: Ich komme in keine einzige Regierungsverantwortung - dann darf man alles sagen.

 

Steuern, Rente, Gesundheit - alles komplizierte Themen.

Van Loon: Ja, aber bei der AfD ist das locker gemacht. Wenn man sich die Plakate anschaut, sieht man, dass auch nicht zu viel versprochen werden muss. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums verspricht man Freiheit, Heimat, Identität. Das hat schon die NPD versprochen - eine schreckliche Partei, aber wer kann gegen die Freiheit sein? "Ich will keine Freiheit!", das sagt kein Mensch. Die AfD hat plakativ auf die CSU gezielt: "Wer CSU wählt, kriegt Merkel." Die CSU hat dagegen nur schwach eingegriffen. Sie war sehr anti Merkel. Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass bei Wahlen Einzelne entscheiden. Wähler stecken einander an. Wenn eine Partei zum Beispiel sagt: Politiker sind alle korrupt, dann wirkt das ansteckend. Das klingt überzeugend.

 

Noch einmal das Beispiel Ingolstadt: Sehr viele Einwohner verdienen gut, es herrscht fast Vollbeschäftigung. Wieso wählten 15 Prozent die AfD?

Van Loon: Arbeitslosigkeit ist keine Ursache für den Erfolg der AfD. Der hat andere Gründe. Alles, was man braucht, ist Angst! Und Parteien wie die AfD generieren Angst. Die ganze Zeit sind sie beschäftigt mit Angst. Auf jedem Plakat der CSU steht etwas mit Sicherheit. Das bedeutet: Die Leute müssen Angst haben, dann wählen sie uns. Die andere politische Seite setzt auf Gerechtigkeit. Hoffnung. Man setzt Angst gegen Hoffnung. Das sind laut Spinoza - das war ein niederländischer Philosoph aus dem 17. Jahrhundert - die zwei wichtigsten Modalitäten der Politik. Angst oder Hoffnung. Und wir sehen jetzt: Die Angst gewinnt. Das ist weltweit so. Die Angst gewinnt über die Hoffnung. Man braucht nicht arbeitslos sein, man muss nur Angst haben, es zu werden.

 

Die Ingolstädter Ergebnisse zeigen verschiedene Hotspots, an denen die AfD besonders stark war. Zum Beispiel im ländlich geprägten Ortsteil Mühlhausen mit seinen vielen Eigenheimen. Da erreichte sie 26 Prozent. Sie kam aber auch auf Werte bis zu 35 Prozent im dicht besiedelten Piusviertel, wo soziale Probleme kulminieren. Es gibt hier mehr Hartz-IV-Empfänger und Armut als in anderen Vierteln. Der Anteil der Einwohner mit Wurzeln im Ausland ist sehr hoch. Es sind also eigentlich zwei ganz unterschiedliche Milieus. Trotzdem war die AfD in beiden erfolgreich. Wie erklären Sie das?

Van Loon: Solche demografischen Grenzen sind ein bisschen künstlich. Denn der Erfahrungswert der Menschen ist nicht nur ihr Viertel. Das Viertel ist, wo sie wohnen, aber ihr Erfahrungswert kann auch das Internet sein oder das Fernsehen. Deshalb verblenden sich die Unterschiede zwischen beiden Milieus schnell. Die Nachahmungseffekte bei den AfD-Wählern erkläre ich mir so: Es gibt in ihrer Alltagswelt anscheinend Probleme, bei denen sie denken, dass sie die Politiker, die immer regieren, nicht mehr lösen können. Die Folge ist Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment.

 

Die jetzt wohl auch in Bayern zum Ausdruck gekommen ist.

Van Loon: Das trifft für Bayern besonders zu, denn hier regiert fast immer schon die CSU. Man wählt sie aus Gewohnheit. Das ist auch ein Nachahmungseffekt. Die AfD bietet Alternativen, sagt sie. Sie hat sich erfolgreich als die Alternative etabliert. Sie bietet Alternativen für Bürger in Mühlhausen und im Piusviertel. Dass es unterschiedliche Alternativen sind, ist wurscht, weil die Leute nie gefragt worden sind, was sie eigentlich machen möchten. Die Ansteckung läuft so ab: "Jetzt muss es mal anders gehen! Jetzt reicht's!" Wenn man dann fragt: "Mit was reicht es", merkt man: In Mühlhausen gibt es andere Ängste als im Piusviertel. Man bedenke: die Flüchtlinge - eine Riesenkategorie! Nicht jeder mit einer anderen Hautfarbe ist ein Flüchtling, aber viele assoziieren das so. Ob die wirklich für die Probleme verantwortlich sind, die man glaubt zu haben oder zu bekommen, das tut nichts mehr. Es geht um Unsicherheit. Diese Ansteckung ist auch ein Marketingphänomen: Dass man Dinge verknüpft, ohne alles mit Fakten zu belegen.

 

Mit dem Begriff "Sozialer Brennpunkt" muss man vorsichtig sein. Er ist auch keine wissenschaftliche Kategorie. Im Piusviertel verdichten sich zwar Probleme, aber es ist keinesfalls verwahrlost oder von Massenarmut geplagt. Woher kommt dann dieser Frust, den man AfD-Wählern unterstellt?

Van Loon: Der kommt wie gesagt nicht aus Alltagserfahrungen, er kommt aus Ängsten, die fremdgeprägt werden. Ich habe Studenten, die im Piusviertel aktiv gewesen sind. Dort haben wir die komische Situation, dass die Leute, die am besten an die deutsche Kultur angepasst sind, eigentlich Migranten sind, die da schon eine Zeit lang wohnen. Die wollen ihre Kinder in guten Schulen haben, die wollen Erfolg, die wollen Arbeit. Oft entstehen die größeren sozialen Probleme durch Leute aus der einheimischen Bevölkerung, die auch noch da ist. Da gibt es viele, die sind schwer zu bewegen, etwa zu Schulungen oder zu einer Ausbildung. In Ingolstadt sind das zum Glück nur wenige. Trotzdem stehen sie für viele Probleme, die man den Ausländern zuschreibt. Natürlich gibt es auch Probleme mit einigen Migrantengruppen, das darf man nicht übersehen. Aber man darf ihnen nicht die Schuld für den Erfolg der AfD geben!

 

Es gibt die These, dass viele russlanddeutsche Spätaussiedler die AfD gewählt haben. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Van Loon: Dann muss man aber auch fragen, warum die AfD in Ostdeutschland so erfolgreich war. Wie gesagt: Die AfD bietet einfache Lösungen, ist aber nicht für deren Umsetzung verantwortlich. In Osteuropa ist Rechtspopulismus sowieso sehr beliebt. Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass Russlanddeutsche früher in der Sowjetunion unter einem ganz anderen Regime gelebt haben und jetzt glauben, dass im Autoritären die Lösungen liegen. Das sind alles Spekulationen. Aber die Soziologie hat ziemlich gut bewiesen: Wenn man Angst hat, ist die einfachste Lösung, für die man am wenigsten investieren muss, am attraktivsten.

 

Viele Russlanddeutsche waren in der UdSSR Außenseiter. Sehr viele sind heute in der Bundesrepublik schlecht integriert. Und die wählen jetzt ausgerechnet eine Partei, die - völlig unsinnig - ein urdeutsches Volkssubstrat, eine homogene Nation mit einer exklusiven Kultur beschwört. Was geht da vor?

Van Loon: Das ist kein großer Widerspruch. Viele Russlanddeutsche sehen sich selbst mit dem deutschen Volk und dem deutschen Blut verbunden. Die haben eine ethnische Definition von dem, was sie sind. Verbunden durch Blut, nicht durch Boden. Die haben sich immer deutsch gefühlt.

 

Aber in vielen dieser Familien wird nicht mal deutsch gesprochen!

Van Loon: Ach, eine Nebensache! "Wir sind im Blut deutsch! Nichts anderes sind wir!", so sehen das viele Spätaussiedler. Was ist dabei das Problem, wo doch die AfD sagt "Deutschland den Deutschen!"? Russlanddeutsche fühlen sich nicht ausgeschlossen von der AfD, die fühlen sich genau angesprochen. Blut und Abstammung sind ein wichtiges Identitätsmerkmal, überall auf der Welt. Wir haben an unserer Universität, der Katholischen Universität, viele türkischstämmige Studentinnen. Die sind viel besser integriert! Aber sie haben - wenn man die AfD-Parolen anschaut - nicht das deutsche Blut.

 

Es kommt damit zu der absurden Konstellation, dass deutsche Hartz-IV-Empfänger Migranten hassen, etwa weil sie um günstige Wohnungen oder Minijobs konkurrieren - aber beide wählen sie die AfD.

Van Loon: Das ist sehr wahrscheinlich! Dass Leute die AfD wählen, obwohl die ihren Interessen wohl nicht dienen würde. Das gilt auch für die Arbeitslosen, die laut den AfD-Parolen faule Schmarotzer sind. Und Russlanddeutsche werden als unintegrierbar und potenzielle Kriminelle gesehen, obwohl sie deutsches Blut haben. Trotzdem schaffen die es ohne Probleme, AfD zu wählen.
 

Was würden Sie einem Politiker raten, der Sie fragt, was man tun muss, um diesen Frustrationen zu begegnen und die AfD-Wähler wieder für die etablierten Parteien zu gewinnen?

Van Loon: Warum sollen wir Soziologen das beantworten? Aber gut. Was mir aufgefallen ist: Am Wahlabend haben die Politiker gesagt: Wir vereinigen uns gegen die AfD für unsere demokratischen Werte. Dazu würde ich sagen: Das hat für die AfD-Wähler sehr wenig Bedeutung. CSU-Politikern, die jetzt ihren Job noch haben, rate ich, aufzuhören zu denken, dass man AfD-Wähler mit AfD-Parolen wieder in die CSU holen kann. Warum sollten die CSU wählen, wenn sie die AfD haben? Warum die Kopie wählen, wenn man das Original haben kann? Das ist die ganz falsche Strategie! CSU-Politiker sollten wieder auf das C eingehen. Christlich - was bedeutet das eigentlich? Christlich-sozial ist etwas anderes als national-sozial. Sie müssen sich abgrenzen von der AfD, sonst bekommen sie die Wähler nicht zurück. Die CSU sollte besser sagen: Christ sein ist wichtiger als deutsch sein! Die müssen wieder entdecken, wer sie sind. Die CSU hat momentan keine Identität mehr.

 

In Eichstätt hat die AfD überraschend 10 Prozent geholt. Im Wahllokal Heilige Familie sogar 29,9 Prozent. Stößt da die Demoskopie an ihre Grenzen?

Van Loon: Ja. Man kann nicht mehr nur mit den Werten aus den Wahlbezirken erklären, wie jemand wählt. Wir haben heute das Phänomen der Meinungsblasen. Ich kann im Internet und im Fernsehen nur das sehen, was ich sehen möchte. Man muss gar nicht mehr von Alltagserfahrungen berührt werden, um etwas zu wählen. In der Heiligen Familie hat auch Die Linke stark gepunktet (15,8 Prozent, d. Red.). Da merkt man: Studierende und Einheimische leben hier zusammen. Es ist viel interessanter zu schauen, was junge Leute gewählt haben. Und da sieht man ein ganz anderes Bild. Denn die brauchen keine Angst. Die jungen Leute brauchen Hoffnung! Man muss einfach Spinoza lesen.

Das Gespräch führten Johannes Hauser und Christian Silvester.