Ingolstadt
"Wir haben nicht mehr viel Zeit"

Tag der Menschenrechte: Micksch erklärt Bekämpfung der Fluchtursachen zur Aufgabe des Jahrhunderts

10.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:05 Uhr
Vor vollem Haus sprach der Soziologe und Theologe Jürgen Micksch am Sonntagvormittag im Foyer des Stadttheaters über die Situation der Flüchtlinge auf der ganzen Welt. Es sei eine „Jahrhundertaufgabe“ der Politik sowie der Zivilgesellschaft, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen. −Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Mit vielen neuen Gruppen hat Amnesty International gestern den Tag der Menschenrechte im Stadttheater veranstaltet – und das bereits im 20. Jahr. Im Mittelpunkt des Beitrags von Gastredner Jürgen Micksch stand die Flüchtlingssituation, die er als „Jahrhundertaufgabe“ bezeichnete.

Ein ums andere Mal brachten Helfer weitere Stühle ins Foyer des Stadttheaters, doch bald mussten sich die Besucher auf den Boden oder die Treppe setzen. „Es ist eine Auszeichnung für diese Stadt, dass so viele Menschen eine Sympathie mit den Menschenrechten hegen“, sagte Gudrun Rihl von Amnesty International Ingolstadt. Mittlerweile seien über 140 Gruppen an der Organisation dieses Tags beteiligt. „Wir leben in Zeiten, in denen Menschenrechtler es wirklich nicht leicht haben“, meinte Rihl und bezog sich insbesondere auf die Zahl der Abschiebungen, die Diskriminierung von Menschen mit anderen Hautfarben sowie die Übergriffe auf Flüchtlingsheime in Deutschland.

Neben der lebensgefährlichen Arbeit der Journalisten und Blogger in der Türkei sprach Rihl aber auch das Schicksal von Su Changlan an. Die Lehrerin aus Foshan, der chinesischen Partnerstadt von Ingolstadt, habe wegen ihres friedlichen Einsatzes für Demokratie gerade eine dreijährige Haftstrafe abgesessen und sei nun auf medizinische Hilfe angewiesen. „Ob sie die bekommt, ist ungewiss, jeder ihrer Schritte wird überwacht“, sagte Rihl. Die Ingolstädter sollten jedenfalls wissen, dass die wirtschaftliche Beziehung zu China auch ihre Schattenseiten habe. „Was wir heute für Menschenrechte tun könnten, ist es, Solidarität zu zeigen“, forderte sie auf. „In diesen nicht einfachen Zeiten dürfen wir nicht einknicken, sondern müssen jeden Tag dafür einstehen.“

Der Soziologe und Theologe Jürgen Micksch, unter anderem Mitbegründer von Pro Asyl sowie des Bayerischen Flüchtlingsrats, zeigte sich angesichts des großen Publikums ebenfalls beeindruckt. „Nirgendwo habe ich es erlebt, dass sich ein Theater für so viele Gruppen, die sich zu diesem Thema präsentieren, öffnet“, sagte er anerkennend in Richtung des Gastgebers, Intendant Knut Weber. Und das sei auch gut so: „Menschenrechte werden weltweit täglich auf vielfältige Weise verletzt“, begründete Micksch. In Deutschland sei vor allem die Situation der Flüchtlinge zu nennen. „Nur wenige wollen, dass Flüchtlinge dieselben Rechte wie wir bekommen.“ Dass sich seit 2015 dennoch viele Gruppen von Flüchtlingshelfern aktiv engagieren, bezeichnete der Soziologe als „eine der erfreulichsten Entwicklungen der Nachkriegszeit“. Denn obwohl das 20. Jahrhundert – vor allem aufgrund der beiden Weltkriege – lange als das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ bezeichnet worden sei, sei heute zu sagen: „Noch nie gab es so viele Flüchtlinge.“ Rund 1,2 Prozent der Weltbevölkerung seien auf der Flucht, und das habe vielfältige Ursachen: Durch Kriege, Hunger, Armut, Klimaerwärmung oder die Überfischung der Meere verlieren Micksch zufolge Tausende ihre Lebensgrundlage. Eine Folge sei: „Die Menschen werden zur Flucht gezwungen.“

Die Ursachen hierfür seien so vielfältig, dass diese nicht von heute auf morgen beseitigt werden könnten. „Es sind weiter hohe Zahlen von Flüchtlingen zu erwarten, das wird das 21. Jahrhundert prägen“, prophezeite Micksch. Es sei die Aufgabe der Zivilgesellschaft, der Kirchen und anderer großer Verbände, auf die Ursachen der Flucht aufmerksam zu machen. „Die Politik reagiert erst, wenn sie die breite Unterstützung in der Bevölkerung hat“, meinte der Referent. Erst die große Willkommenskultur der Bürger habe die Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu gebracht, „Wir schaffen das!“ zu sagen. Die Flüchtlingsthematik ist Micksch zufolge eine „Jahrhundertaufgabe“ geworden. „Menschenleben haben einen höheren Wert als staatliche Grenzen“, betonte er. Die Beseitigung der Ursachen müsse zur Priorität der Politiker werden. „Es kann Jahrzehnte dauern, Dynamiken zu entwickeln“, sagte Micksch. Er warnte aber zugleich: „Wir haben nicht mehr viel Zeit.“